
Protestbewegung in der Türkei: Taksim ist überall
Der Protest in der Türkei wächst weiter. Hunderttausende wollen nach der Verhaftung İmamoğlus verteidigen, was von ihrer Demokratie übrig ist.
H ak, Hukuk, Adalet!“ Auf den Straßen von Istanbul rufen Tausende von Menschen nach „Recht, Gesetz, Gerechtigkeit“. Sie rufen in den Metrostationen, auf den Straßen, in den Bussen. Sie klatschen und pfeifen. Aus den Wohnungen im Stadtteil Beşiktaş klopfen Anwohner mit Holzlöffeln auf Töpfen, um ihre Solidarität auszudrücken.
Auch die Menge vor dem Rathaus im Universitätsviertel Saraçhane ist riesig. 300.000 Demonstranten stehen dicht gedrängt, ihre Sprechchöre hallen durch die Straßen. Fahnen und Banner werden hochgehalten, auf denen „Gezi 2 Loading“ steht. Polizeiautos haben die Straße Richtung Taksim abgesperrt, Wasserwerfer stehen bereit. Taksim – Ort des Widerstands, seit jeher ein Symbol für den Kampf gegen Unterdrückung. Spätestens seit den Gezi-Protesten von 2013 steht er für Demokratie, Meinungsfreiheit und soziale Gerechtigkeit – für eine Hoffnung, die sich nicht auslöschen lässt. Und gerade deshalb ist der Weg dorthin blockiert.
„Istifa Hükümet, Istifa Hükümet“ rufen die Menschen, sie fordern den Rücktritt der AKP-Regierung. Von der Moschee ertönt der Aufruf zum Gebet, doch die Sprechchöre übertönen ihn.
Esra, 24 Jahre alt und Studentin an der Istanbul-Universität steht inmitten der Menge. Ihren Nachnamen und Studiengang möchte sie nicht nennen. Sie hält ein Megaphon fest in der Hand, hinter ihr stehen Studenten und weitere Demonstranten aus verschiedenen Bevölkerungsschichten und recken ihre Fäuste in die Luft. „Sie nehmen unsere Zukunft, sie nehmen unsere Freiheit und sie nehmen uns die Demokratie weg!“, schreit sie mit kratziger Stimme. Die Menge klatscht. Ein Mann ruft: „Helal olsun size!“ (Euch gebührt Respekt!) Eine ältere Frau stimmt ein: „Ihr seid unsere Zukunft!“
Abstimmen für İmamoğlu
Seit Mittwoch sind Esra und ihre Kommilitonen auf den Straßen Istanbuls – seit dem Tag, an dem der 2019 erstmals zum Bürgermeister Istanbuls gewählte Ekrem İmamoğlu von der oppositionellen CHP verhaftet wurde. Am frühen Morgen des 19. März hatten Sicherheitskräfte sein Privathaus umstellt. Der massive Polizeieinsatz mit 3.000 Beamten endete mit seiner Festnahme. Der Vorwurf: Unterstützung einer terroristischen Organisation und Bildung einer kriminellen Vereinigung.
Inzwischen hat ein Gericht entschieden, İmamoğlu bis zu seiner Gerichtsverhandlung im Gefängnis zu behalten. Zudem wurde er von seinem Posten als Bürgermeister suspendiert.
Für die Demonstrierenden ist klar – es handelt sich um eine politisch motivierte Aktion, um den populären Bürgermeister vor der nächsten Präsidentschaftswahl 2028 aus dem Weg zu räumen. İmamoğlu galt als einer der aussichtsreichsten Anwärter. Nur wenige Stunden nach İmamoğlus Festnahme wurde ihm zudem sein Diplom von der Istanbul-Universität aberkannt. Offiziell hieß es, dass Unregelmäßigkeiten in seinen Abschlussunterlagen entdeckt worden seien – doch viele sehen darin eine gezielte Maßnahme, um ihn als Kandidaten für öffentliche Ämter dauerhaft zu disqualifizieren.
Esra, Studentin und Aktivistin
CHP-Chef Özgür Özel hatte die 1,7 Millionen Mitglieder seiner Partei aufgerufen, am Sonntag dennoch via Urnenwahl ihren Präsidentschaftskandidaten für die Wahl 2028 zu nominieren. Zusätzlich wurde eine „Solidaritätsurne“ aufgestellt, damit auch Bürgerinnen ohne Parteibuch ihre Stimme abgeben konnten. Doch wegen seiner Inhaftierung kann die Nominierung İmamoğlus ohnehin nicht in Kraft treten. Die CHP will es trotzdem tun. Jeder Versuch, İmamoğlus Kandidatur zu verhindern, stärke nur die Unterstützung für die Opposition, sagt Parteichef Özel.
Gesetze gelten nicht für Erdoğan
In Saraçhane, Beşiktaş und Şişli stehen die Menschen an diesem Sonntag Schlange vor den Wahllokalen – nicht nur CHP-Mitglieder, auch andere sind gekommen. In Şişli äußert eine Wählerin ihre Hoffnung, dass die Abstimmung wenigstens einen Unterschied machen würde. Doch sie misstraue der Regierung zunehmend: „Alles ist möglich hier“, sagte sie mit skeptischen Blick. „Erdoğan will die Wahlen vorziehen, solange er noch hier und da Stimmen hat, und dann weiterhin in seinem Palast in Ankara wohnen“, glaubt sie.
Diese Befürchtung teilen viele: Offiziell dürfte Erdoğan 2028 nicht erneut kandidieren, da die Verfassung ihm nur zwei Amtszeiten erlaubt. Doch genau hier liegt die Sorge – schon 2023 konnte er nur antreten, weil das Präsidialsystem erst 2018 eingeführt wurde und seine vorherige Amtszeit nicht gezählt wurde. Viele glauben, dass Erdoğan erneut einen Weg finden wird, sich zur Wahl zu stellen, sei es durch eine Verfassungsänderung, eine neue juristische Interpretation oder indem er vorgezogene Neuwahlen durch das Parlament erzwingt, was ihm laut Verfassung eine dritte Kandidatur ermöglichen würde. Dass er sich über Gesetze hinwegsetzen würde, um seine Macht zu sichern, wäre nicht das erste Mal.

Um Proteste zu verhindern, hatte die Regierung ein viertägiges Demonstrationsverbot verhängt. Öffentliche Versammlungen sind untersagt. Die Polizei hat wichtige Verkehrsknotenpunkte gesperrt, darunter die Metrostation in Taksim. Öffentliche Verkehrsmittel wurden teilweise umgeleitet und Straßen gesperrt, um große Menschenansammlungen zu verhindern. Zusätzlich wurden soziale Medien stark eingeschränkt – alles läuft extrem langsam oder gar nicht. Doch die meisten umgehen die Zensur mit VPNs, um sich weiter zu vernetzen und zu informieren.
Im ganzen Land sind nach der Verhaftung des CHP-Politikers inzwischen Menschen auf den Straßen und protestieren gegen die AKP-Regierung. In Ankara, wo die Polizei besonders stark gegen die Studenten der Orta Doğu Teknik Üniversitesi vorgeht, in Sakarya, Antalya, Izmir, Eskişehir und vielen weiteren Städten. „Die ganze Türkei ist erwacht und auf den Straßen für Gerechtigkeit. Wenn wir nichts tun, dann sind wir die Nächsten“, sagt Esra. Sie ist sich sicher, dass die Menschen nicht nur wegen İmamoğlu auf den Straßen sind: „Wir sind endlich wieder laut, wir sind endlich wieder da und wir wollen eine Zukunft haben“, ruft sie ins Megaphon. Und alle skandieren: „Erdoğan rein, İmamoğlu raus.“ Sie fordern die Entlassung Imamoglus und die Festnahme von Erdoğan.
Das Ziel: Taksim
Es sind nicht nur Studierende der Istanbul-Universität auf den Straßen – der Protest wächst. Besonders die Galatasaray-Universität und die Technische Universität Yıldız, zwei der renommiertesten Hochschulen Istanbuls, haben sich dem Widerstand angeschlossen. Gemeinsam mit den Studierenden der traditionsreichen Istanbul-Universität, die schon immer für ihren politischen Aktivismus bekannt war, fordern sie den Präsidenten auf, endlich seinen Hochschulabschluss nachzuweisen – eine Kontroverse, die seit Jahren für Diskussionen sorgt: „Diplomasız Erdoğan, Diplomasız Erdoğan“ (Erdoğan hat kein Diplom).
Inmitten der Menge erkennt Esra einen Studenten mit grünem Parka und Bandana vor dem Gesicht. Sie begrüßen sich knapp, dann bespricht sich die Gruppe mit anderen Demonstrierenden sowie Mitgliedern der CHP-Jugendorganisation. Ihr gemeinsames Ziel ist klar: Taksim.
Der Taksim-Platz, auf dem 2013 der Funke für die Gezi-Proteste entzündet wurde, ist ein Symbol des Widerstands. Doch gerade das, eine neue Gezi-Bewegung, will die Regierung um jeden Preis verhindern. Und so scheint Saraçhane längst zum neuen Zentrum des Widerstands geworden zu sein. Im Park gegenüber der Stadtverwaltung wehen türkische Fahnen zwischen den Bäumen, daneben hängen Plakate von Ekrem İmamoğlu.
Auf den Schildern steht: „Özgür, komm doch her, atme etwas Tränengas!“ – eine kritische Botschaft an den CHP-Chef Özgür Özel. „Die reden nur den ganzen Tag, aber wir müssen die Arbeit machen“, sagt Esra trocken. „Ich halte auch nichts von der CHP.“ Für sie gehe es um mehr, als um Parteien und Politiker. „Am Ende sind es wir kleinen Leute, die unter der Autokratie leiden.“
Protest von Links bis Rechts
Und so sind nicht nur Anhänger der CHP auf den Straßen zu sehen. Es sind Alte und Junge, Studenten, Arbeiter und auch Nationalisten, die ab und an den Wolfsgruß, ein ultranationalistisches Handzeichen, zeigen. Die linke Arbeiterpartei der Türkei (TIP) ist ebenso da wie die kurdische DEM-Partei und die Kommunistische Partei. Sie alle sagen: „Der Angriff auf die CHP ist auch ein Angriff gegen uns und unsere Demokratie.“
Bereits am Donnerstagabend äußerte sich die Co-Vorsitzende der DEM-Partei, Tülay Hatimoğulları. In einer Rede vor den Demonstranten in Saraçhane sagte sie, dass die Verhaftung İmamoğlus als „Putsch gegen den Willen des Volkes“ zu betrachten und solche Maßnahmen inakzeptabel seien. Selbst AKP-Wähler sind vereinzelt dabei. Ein älterer Herr mit Schnauzbart und im dunklen Anzug etwa. Er schäme sich für sein bisheriges Wahlverhalten, sagt er. „Was sind das für Moslems?“, fragt er aufgebracht.

Auch Mitglieder der Istanbuler Anwaltskammer beteiligten sich bereits am Freitag am Protest und marschierten in ihren Roben vom Gerichtsgebäude Çağlayan zum Taksim-Platz. Trotz massiver Polizeipräsenz und errichteter Barrikaden gelang es den Anwälten die Absperrungen zu durchbrechen. Die Szenen, in denen Juristen in ihren schwarzen Roben gegen Polizeischilde drängten, wurden zu einem Sinnbild der aktuellen politischen Lage des Landes.
Die Istanbuler Anwaltskammer solidarisierte sich damit nicht nur mit İmamoğlu, sondern forderte auch die Freilassung ihres Vorstandsmitglieds Fırat Epözdemir, der bereits im Januar unter zweifelhaften Umständen verhaftet worden war. Unterstützung kam auch aus dem Ausland.
Auch die Justiz ist auf den Barrikaden
Die Situation eskalierte weiter, als ein Gericht am 21. März die Absetzung des Präsidenten der Istanbuler Anwaltskammer, İbrahim Kaboğlu, sowie des gesamten Vorstands anordnete. Der Vorwurf: „Terrorpropaganda“ und „irreführende Informationen“ in einem Social Media Post vom Dezember 2024.
In einer emotionalen Rede erklärte Kaboğlu: „Heute ist ein schwarzer Tag für das Recht in der Türkei. Aber wir werden die Solidarität weiter stärken und die Verteidigung ausbauen. Diejenigen, die uns Hindernisse in den Weg legen, sollten nicht vergessen, dass sie eines Tages selbst auf das Recht angewiesen sein werden.“
Esra ist beeindruckt von dieser Protestwelle. Schon seit vier Tagen sei die Atmosphäre gut: „Ich habe das Gefühl, wir sind auf einem großen Demokratie Festival“, sagt sie lachend. Es gehe hier schon lange nicht mehr um links oder rechts oder um CHP oder AKP. „Wir haben İmamoğlu als unseren Bürgermeister gewählt, und wir wollen auch weiterhin entscheiden. Das bisschen Demokratie, das uns bleibt, daran klammern wir uns, und das ist hier unser gemeinsamer Nenner.“
Anonyme Demonstrantin
Während die Menschen auf den Straßen seinen Rücktritt fordern, feiert Erdoğan im Haliç Kongre Merkezi, wenige Kilometer entfernt, das kurdische Neujahrsfest Newroz. Das türkische Fernsehen zeigt ihn lachend das Feuer entzünden und darüber springen. „Er ist jetzt hinter den Stimmen der Kurden her“, kommentiert Esra lachend. Früher habe er das Fest noch verbieten lassen.
Plötzlich bester Freund der Kurden
Und tatsächlich war Newroz für den türkischen Präsidenten lange eine Bedrohung für die nationale Einheit – und für die Kurden ein Symbol politischen Widerstands. Doch jetzt, wo der Druck auf Erdoğan zunimmt, gewinnen die Kurden als Wählergruppe Bedeutung. Esra bemerkt: „Jeder weiß, was er will: Er braucht Stimmen. Er weiß, dass İmamoğlu gewinnen würde. Er braucht die Kurden mehr denn je.“ Ob diese Geste tatsächlich genug ist, um das Vertrauen der Kurden zu gewinnen, bleibt abzuwarten.
Inzwischen hat die Polizei ihre Gangart verschärft. Esra und ihre Kommilitonen haben Tränengas abgekriegt, ihre Augen tränen. Mit Milch wäscht sie sich ihr Gesicht und sagt: „Das soll wohl helfen.“ Im Hintergrund stehen die Polizisten, die Demonstranten rufen: „Direne, Direne Kazanacağız“ (Durch Widerstand werden wir gewinnen).
Sie stürmen Arm in Arm auf die Polizisten, die wehren sich mit ihren Schilden ab, auch der Wasserwerfer kommt zum Einsatz. Die Polizei schießt mit Gummigeschossen. Jemand läuft mit einer Sprühflasche herum: „Wer braucht Milch?“ Man hört Husten und sieht viele tränenden Augen und sie alle rufen: „Kurtuluş Yok Tek Başına“, Befreiung kann nicht alleine erreicht werden.
Die Hoffnung auf den Straßen Istanbuls wächst, einige reden von Revolution, der 19. März wird von vielen bereits als ein historischer Wendepunkt in der Geschichte der Türkei betrachtet. Aber nicht alle sind optimistisch. Eine 45-jährige Demonstrantin, die anonym bleiben möchte, äußert ihre Zweifel. Sie war bei den Gezi-Protesten dabei und erkennt Parallelen zur heutigen Bewegung. Der Widerstand jetzt dürfe nicht nur vorübergehend bleiben. „Es darf nicht bei einem kurzen Aufschrei bleiben. Wenn wir jetzt nach Hause gehen, wird sich nichts ändern“, sagt sie mit besorgtem Blick.
Es geht nicht nur um eine Einzelperson
Auch andere Oppositionelle seien in der Vergangenheit verhaftet worden, ohne dass es zu solch massiven Protesten kam. „Als Selahattin Demirtaş ins Gefängnis gesteckt wurde, hat kaum jemand aufgeschrien. Wir dürfen sie nicht vergessen.“ Für sie geht es um mehr als eine einzelne Person. Es geht um Gerechtigkeit, um Freiheit – und um die Hoffnung, dass dieser Widerstand endlich etwas verändert.
Esra steht wieder mitten in der Menge, ihre Augen sind noch rot und angeschwollen. „Ich weiß, dass die CHP nicht die Lösung für alles ist. Aber im Vergleich zu dieser faschistischen Regierung, die uns unterdrückt hat, ist es der einzige Weg, aus diesem faschistischem System rauszukommen“, sagt sie. Sie hat genug davon, dass Menschen und Meinungen unterdrückt werden, nur weil sie sich gegen den Strom stellen. „Ich kämpfe für mich, für meine Kommilitonen, für unser Diplom und für unsere demokratische Freiheit!“, sagt sie.
Es ist zu erwarten, dass die politische Situation in den kommenden Tagen und Wochen weiterhin dynamisch bleibt. Die Entwicklungen rund um İmamoğlu könnten erhebliche Auswirkungen auf die politische Landschaft der Türkei haben. Esra ruft mit aller Kraft ins Megaphon: „Her yer Direniş, her yer Taksim!“ – Widerstand ist überall, Taksim ist überall! Und die Menge ruft mit. Für sie ist heute, in diesem Moment, eines klar: Solange es Hoffnung gibt, wird der Widerstand weitergehen.
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