Protestbewegung in Algerien: Nordafrikas Vorreiter
In Algerien brachten Massenproteste 2019 den Machthaber Abdelaziz Bouteflika zu Fall. Trotz Corona geht der Aufstand noch immer weiter.
Tunis taz | Im Februar 2019 war es wieder so weit. Algeriens Jugend hatte genug von der autoritären Herrschaft des Regimes in Algier und zog auf die Straße. Und wie. Nach jahrelanger Lethargie war die Gesellschaft wieder erwacht. Lautstark, hartnäckig und konsequent friedlich zogen sechs Wochen lang täglich Hunderttausende Menschen durchs Land und forderten den Rücktritt von Präsident Abdelaziz Bouteflika. Dieser beugte sich im April dem Druck der Straße und trat nach 20 Jahren an der Macht endlich zurück.
Die Protestbewegung Hirak demonstrierte jedoch munter weiter. Ein kosmetischer Personalwechsel an der Staatsspitze reichte ihr nicht. Sie wollte und will bis heute das gesamte „System“ stürzen und fordert einen echten Neuanfang. Bis März 2020 gingen die Proteste ununterbrochen weiter, jäh ausgebremst durch die Coronakrise. Seither ist die Bewegung in der Defensive, denn das Regime geht im Windschatten der Pandemie systematisch gegen den Hirak vor. Hunderte Oppositionelle und Aktivist*innen wurden seither verhaftet, vor Gericht gezerrt oder zu Haftstrafen verurteilt.
Doch das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Der Hirak lauert weiter auf ein Ende der Pandemie und will die Proteste – sein wirksamstes Druckmittel gegen das Regime – schnellstmöglich neu beleben. Das Regime und der Ende 2019 in einem manipulierten Urnengang neu „gewählte“ Präsident Abdelmadjid Tebboune genießen kaum Legitimität im Land, klammern sich aber mit allen Mitteln an die Macht.
In der internationalen Öffentlichkeit – in Europa, aber auch der arabischen Welt – wurde der Hirak 2019 aufmerksam verfolgt und für seine konsequent friedlichen Protestformen gelobt. Aber er wurde auch belächelt: Das Land sei spät dran für den Arabischen Frühling, hieß es immer wieder. In der Tat war es 2011 in Algerien relativ ruhig geblieben. Angespornt von den Aufständen in Tunesien und Ägypten zogen auch 2011 Demonstrant*innen durch die Straßen, doch der Funke sprang nicht über.
Pionier in Sachen revolutionärer Praxis
Aber ist Algerien wirklich der Nachzügler, der acht Jahre länger brauchte, um einen Aufstand zu wagen? Oder waren nicht vielmehr Tunesien und Ägypten spät dran damit, mittels Massenprotesten ihre Regime ins Wanken zu bringen und selbstbewusst soziale Gerechtigkeit und politische Freiheiten einzufordern?
Tatsächlich folgt Algerien einem anderen Rhythmus als seine Nachbarn, darf sich aber als Pionier in Sachen revolutionärer Praxis in der Region bezeichnen. Denn Algeriens erster Massenaufstand brach bereits 1988 aus.
Eine Wirtschaftskrise hatte damals das Fass zum Überlaufen gebracht und einen Aufstand ausgelöst. Der Versuch, ihn gewaltsam niederzuschlagen, schlug fehl. Das Regime zog die Reißleine und initiierte eine demokratische Öffnung. Die Wahlen 1990/91 gewann jedoch die auf der revolutionären Welle schwimmende Islamische Heilsfront (FIS), eine radikalislamische Partei, die das Land kräftig umkrempeln wollte.
Schon 1992 machte die Armee dem „demokratischen Experiment“ ein Ende und putschte sich gewaltsam zurück an die Macht. Das nun unangefochten herrschende Militär ging brutal gegen die FIS vor und legte so das Fundament für den Bürgerkrieg der 90er Jahre, der bis heute nicht adäquat aufgearbeitet wurde und die Gesellschaft nachhaltig traumatisiert hat.
Kein Wunder also, dass die Proteste in Algerien 2011 ins Leere liefen. Die Erinnerungen waren noch zu frisch, die Angst vor einem neuen Krieg war zu groß. 2019 aber war die Zeit wieder reif.
Algeriens Jugend hatte jedoch aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt und auch die Aufstände in der Region 2011 aufmerksam verfolgt. Der Hirak setzt auch deshalb auf Gewaltlosigkeit und etablierte eine Protestkultur, die als Blaupause für die gesamte Region dienen könnte. Obwohl das Regime bis heute die Zügel in der Hand hält, hat der Hirak eindrucksvoll gezeigt, wie man mit konsequent friedlichen Mitteln ein autoritäres System auch langfristig unter Druck setzen kann.