Protest gegen Putins Krieg: Putinocchio und Friedenstauben
In vielen deutschen Städten wie in Berlin gingen am Sonntag mehr als hundertausend Menschen gegen den Ukraine-Krieg auf die Straße.
Betroffenheit ist den Menschen auf dem Alexanderplatz, dem Startpunkt der Demonstration, deutlich anzumerken. Viele gehen schweigend, die Hände hinter dem Rücken verschränkt oder bei ihren Mitdemonstrant*innen untergehakt. Nur vereinzelt skandiert jemand: „Hoch die internationale Solidarität“, Musik ist kaum zu hören.
Auch Nikolai Ivanov ist sichtlich bewegt von den Ereignissen der letzten Tage. Der 48-jährige Kunsthistoriker lebte bis vor dreieinhalb Jahren in Sankt-Petersburg. Seit zwanzig Jahren engagiert er sich bei Memorial, einer russischen Bürgerrechtsorganisation, die sich für die Aufarbeitung der Verbrechen des Stalin-Regimes einsetzt und Menschenrechtsverletzungen in Russland aufdeckt. Im vergangenen Dezember wurde sie in Russland durch den Obersten Gerichtshof verboten, unter anderem, weil sie zur Destabilisierung des Justizsystems beitrage, hieß es in der Begründung. Obwohl er mittlerweile in Berlin lebt, steht Ivanov mit Aktivist*innen in Russland in stetigem Kontakt. „Meine Freunde dort stehen unter großem Druck“, erzählt er. Wer kann, verlasse das Land. Viele hätten jedoch kein Geld für den Umzug oder blieben wegen pflegebedürftiger Angehöriger.
Dass Putins Regime repressiver werden würde, habe sich schon 2014 angekündigt. „Es war nicht nur der Krieg auf der Krim. Man hat das in Europa nicht so verfolgt, aber in Russland haben wir jeden Tag Zeichen der Unterdrückung von Journalisten und Menschenrechtsaktivisten gesehen. Viele von ihnen verloren ihre Jobs oder bekamen hohe Geldstrafen, manche wurden verprügelt oder verhaftet, weil sie zu Demonstrationen gegen den Krieg gingen.“ Dass so viele Menschen in der EU Solidarität mit Ukrainer*innen, aber auch mit russischen Oppositionellen zeigten, berühre ihn. „Wenn ich meinen Bekannten diese Bilder zeige, merke ich: sie brauchen das dringend, sie sind dankbar für jede Unterstützung“, sagt er und deutet auf die Menschenmenge vor ihm.
Der Protest – ein Zeichen für Demokratie
Dort versammeln sich gerade Familien mit Kindern, ältere Menschen mit Fahrrädern und Rollatoren, junge Leute mit Regenbogenfahnen und Antifa-Pullovern. Ein Kind trägt ein Schild, auf dem in Star-Wars-Schrift „Stop Wars“ geschrieben steht. Ein anderes hält eine aus Pappmaché gebastelte Friedenstaube in die Luft.
„Putin interessiert das herzlich wenig“, sagt ein junger Mann namens Jakob. Aber es sei immerhin ein Zeichen, auch für uns, für die Demokratie und den europäischen Zusammenhalt. Vor zwei Wochen hatte das Bündnis „Stoppt den Krieg“ schon einmal zu Protesten aufgerufen. In Berlin gingen nach Polizeiangaben mehr als hunderttausend Menschen auf die Straße. Da habe man zumindest noch konkrete Sanktionen gegen Russland fordern können, die jetzt erlassen wurden, sagt der Demonstrant. Nun sei der Protest eher symbolisch, mehr könne man nicht machen. Dass die NATO militärisch in den Krieg eingreift, zum Beispiel durch eine Flugverbotszone, lehne er ab.
Genau das würde ihren Landsleuten helfen, meint dagegen Sofia Balamar. „NATO close the sky over ukraine“, hat sie in großen blau-gelben Buchstaben auf ein Plakat geschrieben. Die 18-Jährige ist vergangene Woche aus Kiew, ihrer Heimatstadt, geflohen und bei Verwandten in Berlin untergekommen. „Die Menschen aus meinem Land leiden. Sie sitzen in den Kellern, haben nichts zu essen und nichts zu trinken.“ Deshalb gehe sie hier auf die Straße, sagt sie, „die NATO muss uns helfen.“ Auch die wirtschaftlichen Beziehungen, die insbesondere Deutschland nach Russland halte, müssten gekappt werden.
Dass die Sanktionen wirklich etwas bewirken, bezweifelt Nikolai Ivanov, der Memorial-Aktivist. In Russland stünden viele Menschen hinter Putin, die Propaganda wirke. Dass sich die Russ*innen gegen Putin auflehnen werden, hält er für unwahrscheinlich. Im Gegenteil: „Die Menschen werden nicht auf die Straßen gehen. Sie sind bereit zu leiden für Putin, dem sie vertrauen. Sie werden ihn nur noch mehr unterstützen. Es wird für sie sogar eine Art heilendes Gefühl auslösen, das sie verbindet, weil sie denken, dass sie etwas tun, was richtig ist: Putin zu helfen.“
Peace-Zeichen, Friedenstauben und eine Litauen-Flagge
Dabei zeige sich gerade am Krieg und an den offenbar schlecht ausgerüsteten russischen Truppen, wie wenig das Bild, das Putin von Russland gezeichnet habe, zutreffe. „Putins Russland ist eine Geschichte, hinter der sich nichts verbirgt. In Wirklichkeit funktioniert in Russland nichts, die Menschen sind arm, es gibt keine eigene Industrie.“ Auch die Ölvorkommen würden daran nichts ändern, nicht für die Bevölkerung. Ivanov ist sich sicher, er möchte es sein: „Die Ukraine wird gewinnen.“
Und dann? In jedem Fall blieben Traumata, sagen Elena und Žilvinas. Inmitten der vielen Plakate, Peace-Zeichen und Friedenstauben schwenken sie eine große gelb-grün-rote Flagge für Litauen, ihr Heimatland. Sie fühlen mit den Ukrainer*innen, sagen sie. „Was sie erleben, kennen wir von unseren Eltern und Großeltern, die durch den Krieg traumatisiert sind“, sagt Elena. „Die Angst wohnt immer noch in uns.“
Dass Putin auch das Baltikum und damit EU-Staaten angreifen werde, glaubt sie nicht. Žilvinas widerspricht ihr: „Das ist schon eine Möglichkeit, Putin hat schließlich keine Logik mehr.“ „Putins Wahrnehmung der Wirklichkeit ist verzerrt“, sagt auch Ivanov. „Er dachte, nach der schwachen Reaktion Europas auf die Annexion der Krim wäre der Krieg in der Ukraine eine klare Sache.“ Eine realistische Einschätzung der Streitkräfte gebe es im Kreml nicht, auch, weil sich Putin wegen der Pandemie für zwei Jahre komplett isoliert habe. „Sie haben den langen Tisch gesehen“, sagt Ivanov. Den langen Tisch – und die lange Nase.
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