Protest gegen Internet-Maut: Ungarns Smartphone-Bewegung
Es geht nicht nur um die Freiheit des Internets. In den Protesten artikuliert sich lange aufgestauter Unmut über die Regierung.
WIEN taz | Was sich da Dienstagabend wie ein riesiges Glühwürmchen über die Budapester Elisabethbrücke wälzte, musste beeindrucken. „Orbán, hier spricht das Volk!“ Mit diesem Sprechchor marschierten geschätzte 100.000 Menschen über die Donau. Auch in mindestens zehn weiteren Städten wurde demonstriert.
Was die erzürnte Menge zum zweiten Mal innerhalb von drei Tagen auf die Straße brachte, war die geplante Internetsteuer, mit der die Regierung jedes Gigabyte Datentransfer belegen will. Eine Gruppe von etwa 3.000 Demonstranten, die anschließend vor das Parlament zog, machte klar, dass es nicht nur um die Freiheit des Internets geht. Sie forderten, dass die EU-Flagge, die ein Abgeordneter der rechtsextremen Jobbik am Ende der vergangenen Sitzungsperiode theatralisch aus dem Fenster geworfen hatte, wieder aufgehängt werde.
Der Parlamentspräsident der regierenden Fidesz hat die Neubeflaggung bisher abgelehnt. Das Feindbild Brüssel wird nicht erst gepflegt, seit EU-Telekommunikationskommissarin Neeli Kroes per SMS zur Teilnahme an der Demo in Budapest aufgerufen hat. Die Europäische Kommission findet die Internetsteuer unzulässig und unzweckmäßig. Ungarn ist ein Land, das digital noch auf der Kriechspur schleicht.
Orbán will sich nicht belehren lassen. Am Morgen nach der Demo schickte er den Fidesz-Abgeordneten Szilárd Németh vor, der verkündete: „Die Regierung wird die Internetsteuer nicht zurücknehmen.“ Vielmehr sei sie „eine gute Chance und Möglichkeit, den Zugang zum Internet auszubauen.“
Regierung bezichtigt „ausländische Agenten“
Der Gesetzentwurf: Pro angefangenem Gigabyte soll eine Steuer von 150 Forint, umgerechnet 0,49 Euro, erhoben werden. Ein Gigabyte verbraucht man beispielsweise, wenn man etwa 200 Lieder online hört, sechs Stunden Videos bei niedriger Qualität schaut oder sich 8,5 Minuten eines HD-Videos herunterlädt. Die Regierung legte eine monatliche Obergrenze der Steuer von 700 Forint (2,27 Euro) für Privatkunden und 5.000 Forint (16,20 Euro) für Geschäftskunden fest. Berechnen, erheben und abführen soll in Ungarn der Internetanbieter die verbrauchte Datenmenge.
Das Problem: Die Internetanbieter könnten so nicht nur das Geld für die Steuer selbst, sondern auch die Kosten für den Mehraufwand, um den Verbrauch zu erfassen, auf die Kunden abwälzen. Kritiker befürchten, dass ärmeren Schichten so der Zugang zum Internet versperrt wird. Das Gesetz soll am 17. November beschlossen werden. Weitere Demonstrationen sind angekündigt. (sb)
Im Übrigen, so heißt es in einem Kommuniqué der Regierung, handle es sich weder um eine Internetsteuer noch überhaupt um eine neue Steuer, sondern lediglich um die Ausweitung der Telekommunikationssteuer auf die Internettelefonie. Das Geld solle zum Ausbau des Breitbandnetzes verwendet werden. Bis 2018 sollen auch mit EU-Geldern alle Gemeinden Ungarns ans Breitbandnetz angeschlossen werden.
Die Regierungsmedien vermuteten die sozialdemokratischen Oppositionsparteien hinter den Protesten. „Linksradikale Aktivisten“ und „ausländische Agenten“ sollen die Strippen gezogen haben. Auf den von manchen Rednern angesprochenen Unmut über Korruption und autokratische Entwicklungen gingen sie nicht ein.
Seit Wochen rätselt man in Ungarn über die Identität von zehn prominenten Funktionären und Unternehmern aus dem Dunstkreis von Premier Orbán, die von den USA kein Visum mehr bekommen. Die US-Botschaft in Budapest hatte Berichte bestätigt, wonach die Obama-Regierung diese Leute wegen Korruptionsverdachts auf die Watchlist gesetzt hat. Es soll um ein Steuerkarussell gehen, eine beliebte Art der Umsatzsteuerhinterziehung, bei der Waren virtuell durch mehrere Länder geschickt werden und so die Mehrwertsteuer schließlich an einem Unternehmen hängen bleibt, das sich dann in Luft auflöst. Einem Geschäftspartner aus den USA soll die Beteiligung an solchen Transaktionen angeboten worden sein.
Orbáns Schusekurs gegenüber Putin
Washington ist freilich auch über den Schmusekurs Orbáns gegenüber Wladimir Putin verstimmt, und Obama hat Ungarn wegen seiner autoritären Tendenzen und Repression der Zivilgesellschaft in einem Atemzug mit Ägypten genannt.
Bisher hat Viktor Orbán alle Proteste ausgesessen. Mit der Internetsteuer könnte er sich aber verkalkuliert haben, meint die Betreiberin des kritischen Internetportals Pusztaranger: „Während die Themen der verpufften Massenproteste von 2012 – Mediengesetz, Pressefreiheit – vor allem Budapester Intellektuelle interessierten, sind von der geplanten Internetsteuer alle ungarischen Internetnutzer, unabhängig von ihrer politischen Einstellung, unmittelbar persönlich betroffen.“ Sie sieht das als Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: „In den Protesten artikuliert sich aufgestauter Unmut über die Regierung allgemein.“
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