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Propagandafilm für eine überfällige Revolution

Mit einer feinsinnigen und stilistisch klugen Dokumentation wirbt Filmemacherin Annelie Boros dafür, Pflege neu zu denken. In ihrem Zentrum stehen vier Menschen, deren Leben um Fürsorge kreisen. Und eine Protagonistin, die einfach nicht mehr da ist

Arnold spricht liebevoll mit seinem Sohn, während er das Essen zubereitet Foto: Annelie Boros/W-Film

Von Wilfried Hippen

„Pflegenotstand“ ist schon seit einiger Zeit ein Anwärter auf den Titel „Schlagwort des Jahres“. Und angesichts der rapide zunehmenden Alterung unserer Gesellschaft steigen seine Chancen von Jahr zu Jahr. Darüber, was dies ganz konkret im Leben einzelner in Deutschland lebender Menschen bedeutet, hat die Filmemacherin ­Annelie ­Boros einen Film gemacht. Schon dessen Titel „Die zärtliche Revolution“ verdeutlicht, wie radikal die gesellschaftspolitischen Änderungen sein müssten, um diesen Notstand auch nur ansatzweise zu beheben.

Dafür hat sie vier Menschen mit der Kamera begleitet, die Fürsorge zum Mittelpunkt ihres Lebens gemacht haben. Einer davon ist der Hamburger Arnold, der sich 24 Stunden am Tag um seinen schwerstbehinderten Sohn Nico kümmert. Angesichts der erbärmlichen Situation, in der pflegende Angehörige wie er sich in unserem „Sozialstaat“ befinden, wehrt er sich mit Protestaktionen wie einer Fahrradtour von Hamburg nach Berlin.

Er sei früher ein sanftmütiger Mensch gewesen, sagt er, doch inzwischen sei er „pampig“ und eine „Schweinebacke“ geworden. Sich zu wehren hat auch die Polin Bożena gelernt, die als 24-Stunden-Pflegekraft in Deutschland arbeitet und zehn Jahre lang eine alte Frau bis zu deren Tod gepflegt hat. Diese intensive Arbeit bringt Bożena oft an die Grenzen ihrer Kräfte. Sie hat Schuldgefühle, weil sie ihre eigene Tochter bei deren Großeltern in Polen lassen musste und fällt auch deshalb immer wieder in Depressionen. Dass sie daneben auch noch um eine gerechte Bezahlung kämpfen muss und ihre Arbeitsagentur sie und ihre Kolleginnen systematisch über den Tisch zieht, ist angesichts ihrer aufopferungsvollen Arbeit empörend. Und so gehört es zu den wenigen Feel-good-Momenten dieses Films, wenn Bożena sich mit anderen Pflegerinnen in dem von ihr mitorganisierten Netzwerk „Respekt“ trifft und von dem Prozess erzählt, den sie inzwischen mit der Unterstützung ihrer Gewerkschaft gegen die Pflegeprofiteure gewonnen hat. Sie erzählt auch davon, dass sie die Menschen liebt, mit denen sie jahrelang intensiv zusammenlebt.

Die Vermischung des Beruflichen mit dem Privaten ist das beherrschende Thema im Leben des querschnittsgelähmten Samuel. Man würde bei Schwerbehinderten wohl kaum von Privilegierten sprechen. Aber Samuel kann es sich leisten, mehrere Pflegekräfte für seine 24-Stunden-Betreuung zu beschäftigen.

Mit diesen pflegt er einen sehr vertraulichen und sehr körperlichen Umgang. Der ist zum Teil kaum von Freundschaft oder einer Liebesbeziehung zu unterschieden. Während der Dreharbeiten kündigt dann auch eine der Pflegerinnen, weil sie zugleich Angestellte und intime Freundin von Samuel war und dieser Zwiespalt sie zu schwer belastet.

Aber für Samuel kann es keine Beziehung ohne Pflege geben: Er setzt sich bei Aktionen mit anderen Schwerstbehinderten dafür ein, dass ausgerechnet im El Dorado der Immobilienpreise München ein inklusives Haus für eine Wohngemeinschaft von Schwerstbehinderten entsteht.

Film „Die zärtliche Revolution“, Premiere in Anwesenheit von Regisseurin Annelie Boros im Abaton-Kino, Hamburg, 14. 8., 17.30 Uhr

Suizidgedanken? Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr unter ☎ 0800-11 10 111 oder 0800-11 10 222 erreichbar

Die zu der peruanischen Ethnie Quechua gehörende Amanda hat einen umfassenderen Begriff von Fürsorge. Der Klimaaktivistin geht es um die mangelnde Sorgfalt, die wir Menschen der Natur entgegenbringen.

Sie sagt, „das größte Gesundheitsrisiko ist die ökologische Krise“ und besucht mit dem Kamerateam Betroffene der Hochwasserkatastrophe im Ahrtal. Die können davon erzählen, wie klein und wehrlos der Mensch angesichts der Naturgewalten ist.

Die Vermischung des Beruflichen mit dem Privaten prägt das Leben des querschnittsgelähmten Samuel: Sein Umgang mit den Pflegekräften ähnelt zum Teil eher einer Liebesbeziehung

Die fünfte Protagonistin des Films ist hingegen abwesend: „Kathrin hat sich umgebracht“, mit diesem Satz lässt Annelie Boros „Die zärtliche Revolution“ beginnen. Er bezieht sich auf einen persönlichen Verlust. Eine engen Freundin, die an bipolaren Störungen und unter ihrer Pflegesituation litt, hat während der Dreharbeiten einen Suizid verübt. Die Regisseurin schildert ihre Trauer und Schuldgefühle und macht so vom ersten Moment an ein Kernmotiv des Films deutlich: Ein Teil der Fürsorge ist auch immer das Sorgen. Arnold fragt sich, was aus seinem Sohn wird, wenn er ihn nicht mehr pflegen kann. Bożena muss immer wieder ­erleben, wie die Langzeitgepflegten in ihrer Obhut sterben, Samuel leidet unter der allgegenwärtigen Verachtung denen gegenüber, die er „Krüppel“ nennt, und für Amanda würde „der Planet ohne Menschen ein neues Gleichgewicht finden“.

Annelie Boros hat den Film aus ihrer subjektiven Perspektive heraus gestaltet. Die Prot­ago­nis­t*in­nen schreiben und lesen eigene Texte vor, die sie oft wie Briefe mit „Liebe Annelie“ beginnen lassen. Nicht selten sprechen sie direkt in die Kamera. Diese gestellten Drehsituationen halten sich die Waage mit Momentaufnahmen aus dem Alltag der Pflegenden. Diese Parteilichkeit ist eine große Stärke des Films, der inhaltlich und stilistisch ganz offen Propaganda für eine „zärtliche Revolution“ betreibt.

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