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Probleme der „Tagesschau“Flaggschiff in Schieflage

Das Vertrauen der Deutschen in Medien sinkt. Die „Tagesschau“ ist Teil des Problems, will es aber nicht wahrhaben. Unser Autor hat dort gearbeitet.

Ein Bild, wie es viele kennen: Die „Tagesschau“, hier mit Susanne Daubner Foto: Hendrik Lüders/ndr

Berlin taz | Die „Tagesschau“ bleibt das Flaggschiff des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Auch 2024 schauten im Schnitt um 20 Uhr über 9,5 Millionen Menschen zu – das sind über 40 Prozent Marktanteil. Auf Youtube, Tiktok oder X steigerte die „Tagesschau“ ihre Followerzahlen bis zu 17 Prozent. Der Instagram-Kanal ist mit durchschnittlich fast 28 Millionen Interaktionen pro Monat der meistfrequentierte. Und so jubelt „Tagesschau“-Chefredakteur Marcus Bornheim: „Wir freuen uns, dass wir für alle Menschen in Deutschland die Nachrichtenmarke Nummer 1 sind.“

Aber bedeutet Interesse automatisch Zustimmung? Unzweifelhaft bestimmt die „Tagesschau“ den politischen Diskurs in Deutschland mit. Als politisch Interessierter kommt man nur schwer an ihr vorbei. NDR-Intendant Joachim Knuth hält das für einen „schönen Vertrauensbeweis“ der Zuschauer und lobt die „gleichbleibend hohe journalistische Qualität“ der „Tagesschau“.

Allerdings sinkt das Vertrauen der Deutschen in Medien. Zunehmend sind Menschen nachrichtenmüde oder meiden Nachrichten. Studien wie der „Reuters News Report“ belegen das. Die führende Nachrichtenquelle ist Teil des Pro­blems. Aus vielen Gesprächen weiß ich: Die Unzufriedenheit ist groß.

Genauso geht es etlichen Redakteuren der „Tagesschau“. Sie sehen die eigenen Produkte kritisch, hadern mit Arbeitsbedingungen und Strukturen. Nur sagen sie das nicht öffentlich. Sie wollen ihre gut bezahlten und sicheren Jobs nicht gefährden. Und haben Angst vor dem Beifall von der falschen Seite. Denn immer mehr Menschen wollen ARD & Co. nicht reformieren, sondern abschaffen. Das führt zu einer Wagenburgmentalität innerhalb des Systems. Und behindert notwendige Diskussionen.

Woher ich das weiß? Ich habe 21 Jahre für die ARD gearbeitet. Zuletzt sechs Jahre bei der „Tagesschau“. Hier einige Punkte, die mir dabei aufgefallen sind:

Terminjournalismus

Parteitage, Wahlen, Pressekonferenzen, Gipfeltreffen oder Bundestagssitzungen sind Klassiker der „Tagesschau“. Themen ohne Einladung finden dagegen oft nicht statt. So entgehen den Zuschauern wichtige gesellschaftliche Debatten. Glauben Sie nicht? Dann suchen Sie mal den Beitrag „Laschet lacht“ im Archiv. Den Wendepunkt im Kampf um die Kanzlerschaft 2021 hat die Redaktion leider verpennt. Auch einen „Tagesschau“-Beitrag über die Wahlkampfpannen der Grünen-Kandidatin Baerbock werden Sie nicht finden.

Gleiche Herkunft

Redakteure der „Tagesschau“ haben fast alle studiert und sind westdeutsch sozialisiert. Frauen sind nicht gleichberechtigt in den Leitungspositionen vertreten. Migranten, Ostdeutsche, Menschen mit Behinderung oder Kinder ärmerer Elternhäuser sind unterrepräsentiert. Dies wirkt sich auf die Auswahl der Themen aus. Genauso auf die Art, wie die Nachrichten erzählt werden.

Unbekannte Chefs

Die Chefredaktion hat nur einen begrenzten Einfluss auf das Programm. Das wird in erster Linie durch die Chefs vom Dienst bestimmt. Dieser Kreis von etwa zehn Redakteuren wird nach einem undurchsichtigen Verfahren bestimmt. Man kann sich nicht darauf bewerben. Während jeder Chefredakteur einer kleinen Regionalzeitung mit Gesicht und Namen für sein Produkt steht, bleiben die Entscheider der „Tagesschau“ ihren Zuschauern unbekannt und müssen sich nie öffentlich verantworten.

Regierungsnah

Vertreter der Regierung kommen in der „Tagesschau“ überproportional oft zu Wort. Nur ausnahmsweise werden ihre Aussagen eingeordnet. Sprecher der Opposition kommen selten zu Wort. Das belegen sowohl eine Studie der Uni Mainz als auch meine eigenen Auswertungen. So entsteht das Bild einer Sendung auf Regierungslinie. Dies hat auch mit dem Einfluss des ARD-Hauptstadtstudios zu tun. Manchmal bestücken dessen Redakteure ganze Sendungen. Sie pflegen enge Beziehungen zu Akteuren im politischen Berlin. Ihnen fehlt häufig die kritische Distanz.

Wetter statt Klima

Die Erderwärmung halten die „Tagesschau“-Macher für ausreichend berichtet. Man wolle nicht langweilen. Dafür werden gern Naturkatastrophen gesendet: Tornados, Lawinen, Blitzeis und Stürme schaffen es oft in die Sendung. Denn sie liefern beeindruckende Bilder. Doch sind die Ereignisse meist austauschbar. Was dagegen fehlt, sind Einordnungen: Brennt es derzeit häufiger, und gibt es mehr Überflutungen? Wie können sich Städte vor Hitze schützen, und was hilft gegen Waldbrände?

Kurzatmigkeit

Der Nachrichtentakt schlägt immer schneller. Leider produziert die „Tagesschau“ dabei auch Falschmeldungen, weil den Redakteuren keine Zeit mehr zur Faktenprüfung gegeben wird. So fiel sie auf das Satiremagazin Titanic herein und vermeldete das Ende der Koalitionsgemeinschaft von CDU und CSU. Die „Tagesthemen“ widmeten sich 23 Minuten lang dem Rücktritt von CSU-Chef Seehofer – der aber gar nicht zurückgetreten war. Stundenlang berichtete „Tagesschau 24“ über einen Amoklauf an einer Hamburger Schule, der sich als Drohung mit einer Spielzeugpistole von Dreizehnjährigen entpuppte.

Boulevardisierung

Der Sport ist auf dem Vormarsch. Selbst eine U21-WM, Freundschaftsspiele oder ein Bobweltcup sind der „Tagesschau“ Beiträge wert. Männer-Bundesligaspiele sind Pflicht – sogar Kiel gegen Bochum. Dazu gibt es die Tabelle, auch wenn sie an Spieltag zwei keine Aussagekraft hat. Politisch relevante Nachrichten fallen dafür unter den Tisch. Auch zugunsten der Royals. Hochzeiten, Todesfälle und Geburten nehmen breiten Raum ein. Sogar Krankheiten der Frau des Thronfolgers oder das Buch eines Ex-Prinzen erscheinen berichtenswert. Und wozu? Die Quote ist selbst bei der „Tagesschau“ inzwischen heilig – jeden Morgen werden in der Konferenz als Erstes die Zahlen verlesen.

Expertenunwesen

In vielen Beiträgen und Gesprächen tauchen Experten auf. Doch ihre Auswahl beruht weniger auf ihrer Expertise als auf Erreichbarkeit, Prominenz oder Einfluss. Die Organisationen, bei denen sie angestellt sind, werden selten eingeordnet. So ist die Stiftung Wissenschaft und Politik ein Dauergast. Dass ihre Akteure oft gleichzeitig die Bundesregierung beraten, bleibt meist unerwähnt. Zudem werden Experten, die Meinungen vertreten, die den Ansichten der Redakteure widersprechen, nicht mehr eingeladen.

Wording und Framing

Die Sprache der „Tagesschau“ ist nicht neutral. Bolsonaro, der Ex-Präsident Brasiliens, wurde oft als „rechtsextrem“ bezeichnet, sein Nachfolger Lula da Silva als „links“, was sehr unkonkret ist. Venezuelas linksextremer Präsident Maduro dagegen ist ein „Machthaber“. Bei Italiens Regierungschefin Meloni wird auf den Zusatz postfaschistisch verzichtet. Die FPÖ bekommt dagegen oft ein „rechtspopulistisch“ umgehängt, und ihr Chef Kickl ein „rechtsnational“, manchmal muss es auch ein „rechts“ tun, oder die FPÖ wird als „in Teilen rechtsextrem“ bezeichnet wie sonst die AfD. Besser wäre, solche unpräzisen Bezeichnungen in den Nachrichten ganz wegzulassen. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist ein „Angriffskrieg“, gern auch „brutal“ oder „verbrecherisch“. Sind Kriege das nicht immer? Weniger wäre mehr. Eine sachliche Sprache angemessener. Die Mehrheit der Staaten wird undemokratisch regiert. Manchen Präsidenten als Machthaber oder Diktator zu bezeichnen, andern dagegen nicht, wirkt willkürlich.

Seichtes Social

Nicht überall, wo „Tagesschau“ draufsteht, sind noch nüchterne politische Informationen drin. Auf Tiktok, Facebook und Whatsapp kapern seichte Unterhaltung und bunte Bildchen die Marke. Hier Beispiele des Instagram-Kanals: Männershorts mit Spitze in Japan, ein Eisfestival in China, 45 Tannen für Elefanten im Zoo Berlin, ein Kreisliga-Team, in dem fast alle Spieler Kurtanovic heißen, ein Marathon in der Antarktis und: Wie schnell muss der Weihnachtsmann sein?

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1 Kommentar

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  • Dann braucht öffentlich-rechtliches Agenda Setting eine unabhängige Kontrollinstanz.