Probenbesuch bei Kirill Serebrennikov: Das Knurren der Rentnerinnen
Kirill Serebrennikov darf Moskau nicht verlassen. Also probt er im Gogolcenter in Moskau „Decamerone“ mit dem Deutschen Theater aus Berlin.
„Decamerone“ wird am 8. März am Deutschen Theater in Berlin Premiere haben. Aber der Regisseur der Inszenierung hat keinen Pass. Seit 2017 läuft in Russland ein Gerichtsverfahren gegen ihn, zuerst stand er unter Hausarrest, jetzt kann er wieder in seinem Theater arbeiten, aber er kann nicht aus Russland raus. Das Deutsche Theater, das die Inszenierung mit ihm schon vor seiner Festsetzung verabredet hatte, wollte den Premieren-Termin nicht noch weiter verschieben und hat sich für eine kreativ-pragmatische Lösung entschieden: Wenn der Regisseur nicht zu den SchauspielerInnen reisen kann, fliegen sie eben zu ihm.
Da Serebrennikov vier von seinen SchauspielerInnen mit ins Team nimmt, kommt es zu immer wieder zu zweisprachigen Szenen. Im Juni wird die Inszenierung auch in Moskau gezeigt.
Zehn Novellen wählte er aus Giovanni Boccaccios „Decamerone“ aus und ordnet sie den vier Jahreszeiten zu. „ICHDICHNICHT“ spiegelt den Herbst in der Liebe. Die Rache ist hier groß an jemandem, der eine große Liebe nicht erwidert. Serebrennikov hält sich nah an Boccaccios Vorlage. Liest man im Decamerone die 8. Geschichte des 5. Tages, erfährt man von einem sehr reichen Mann, der unerwidert eine adelige Frau liebt und sie doch zur Frau bekommt. Er „bekehrt“ sie, indem er ihr das Schicksal einer anderen vorführt, die nach ihrem Tod in einer unendlichen Wiederholung von einem Reiter gejagt und von Hunden zerfleischt wird.
Im Probenraum ist es voll
Bei Serebrennikov werden die Hunde von fünf Moskauer Rentnerinnen gespielt. Sie sitzen auf Stühlen und knurren. Mittendrin der junge Schauspieler Marcel Kohler, der über das Mikrofon die Situation markiert: „Störe nicht den, der nicht gestört werden will.“ Vor ihnen jagt Georgiy Kudrenko mit langen Stäben die Schauspielerin Yang Ge. Evgeny Kulagin, der Choreograf, sieht sich vom Bühnenrand aufmerksam bei seiner Choregrafie zu. Kudrenko hebt Yang Ge mit den Stäben an, hat sie in seiner Gewalt, zwingt sie zu Boden und stößt zum Finale die Stäbe senkrecht nach unten.
Im Proberaum stehen ziemlich viele Stühle eng nebeneinander, denn es ist ein ungewöhnlich großes Team. Neben Serebrennikov sitzen sein Choreograf, Birgit Lengers vom DT, die Dramaturgin, jeweils eine Berliner und eine Moskauer Regieassistentin, die Kostümbildnerin Tatjana Dolmatovskaja, die Soufleuse vom DT und die Dolmetscherin, die jede Regieanweisung simultan übersetzt. Vor der anderen Wand haben die MusikerInnen mit ihren Instrumenten ihren Platz. Als vor drei Jahren die Planungen für diese Inszenierung begannen, stand fest, dass Daniel Freitag die Musik dazu komponiert und dass sie live performt wird.
Für Georgette Dee, Sängerin und Schauspielerin, hat Freitag vier Gedichte ausgewählt und vertont. An diesem Probentag singt sie das Herbstlied, eine Vertonung von Rainer Maria Rilkes Gedicht: „Das ist die Sehnsucht“. Sie spricht den Text mehr, als dass sie ihn singt. Begleitet vom Cello ist in ihrer Stimme Weisheit und Trauer.
Persönliche Liebes- und Lebensgeschichten
Die fünf Damen im fortgeschrittenen Alter, die wie Hunde knurren und sonst auf der Bühne von Almut Zilcher, ein Star vom Deutschen Theater, in Gymnastik trainiert werden, singen alle in einem Rentnerinnen-Chor und sind von Serebrennikov persönlich gecastet. Die jüngste ist 68, die älteste 85 Jahre alt. Beim Casting musste jede etwas ganz Persönliches aus ihrem Liebesleben erzählen, denn genau das steht am Schluss der Inszenierung: diese fünf wahren Geschichten. In Deutschen Theater werden es fünf Berliner Liebes- und Lebensgeschichten sein.
Das Gogol-Center in der Nähe des Kursker Bahnhofs ist eigentlich ein ehemaliges Eisenbahndepot. Anfang der 1930er Jahre wurde es zum Theater umgebaut. Aus der Zeit stammt die Stuck-Kassettendecke, die man über sich hat, wenn man die Treppe zur Probebühne hochgeht. Sie leuchtet in einem dunklen Blau.
Als Serebrennikov im Sommer 2012 das Gogol-Theater als Intendant übernahm, ließ er er es für ein paar Monate schließen und von der Künstlerin Vera Martynov umgestalten. So sind die Wände oft bis zu den Backsteinen freigelegt. Auf dem Weg vom Theatereingang bis zur Treppe laufe ich an Zitaten der Theateravantgarde vorbei, von Konstantin Stanislawski, Jerzy Grotowski und Peter Brook. Im Treppenaufgang blickt mich Heiner Müller an.
Dann bin ich bei der Probebühne angekommen und passe gerade noch in die letzte freie Ecke. Ich bin die einzige eingeladene Journalistin aus Berlin und erlebe einen ganzen Tag lang konzentrierte und doch entspannte Proben. Hier ziehen alle an einem Strang.
Unfreiwillige Unmündigkeit
Serebrennikovs unfreiwillige Unmündigkeit ist der Kontext, wird aber von niemandem explizit kommentiert. Erst recht nicht von ihm selbst. Aber gerade in der Pest, der Ausgangssituation von Boccaccios Novellen, sieht Serebrennikov eine Extremsituation. Ihn interessiert explizit das menschliche Verhalten unter solchen Bedingungen. Auch dieser Probenprozess ist eine Extremsituation beziehungsweise deren Überwindung.
Kirill Serebrennikov, „Decamerone“, Premiere im Deutschen Theater in Berlin 8. März. Im Juni wird es auch im Gogol-Center in Moskau gespielt.
Der Regisseur möchte gerade mit diesem Projekt untersuchen, ob Theater auch verständlich sein kann, wenn man die jeweilige Sprache nicht versteht. Aus diesem Grund gibt es zweisprachige Episoden wie „ICHDICHNICHT“. Was die Proben betrifft, ist Serebrennikov überzeugt, dass Theaterschaffende eine transnationale gemeinsame Sprache sprechen, mit der sie unabhängig von Worten und deren Bedeutung kommunizieren können.
Aleksandra Revenko, die schon sein acht Jahren mit ihm zusammenarbeitet, hat während der Proben die Erfahrung gemacht, dass, wenn die Selbstverständlichkeit der Kommunikation wegfällt, eine andere Art von Aufmerksamkeit entsteht. Georgette Dee beobachtet eine ungekannte Ganzheitlichkeit im Spiel der Gogol-SchauspielerInnen. Almut Zilcher schätzt, dass dieser Regisseur so genau weiß, was er will.
Der Probenprozess wiederum ist hochprofessionell strukturiert und gleichzeitig verlangsamt durch die Simultanübersetzung. Den KünstlerInnen aus Berlin fällt auf, dass es beim Proben weniger Freiräume für SchauspielerInnen gibt. Hier wird erst das Gerüst gebaut und dann mit Inhalt gefüllt. Serebrennikov arbeitet eben sehr effizient. Gleichzeitig ist er überzeugt, dass Theater frei und lebendig sein muss. „Ich hasse totalitäres Theater“, bricht es aus ihm heraus. „Warum ist Theater immer noch Handwerk“, fragt er rhetorisch. „Weil sich Theater direkt an den Menschen wendet – ohne Propaganda. Und das wiederum löst bei vielen Menschen eine gewisse Art von Wachsamkeit aus, weil sie es gerne anders hätten.“
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