Pro und Contra Kazuo Ishiguro: Kobolde und Emotionen
Beim Literaturnobelpreisträger Ishiguro ist Magie da, wo sie hingehört, sagt unsere Autorin. Der aktuelle Roman enttäuscht, findet unser Autor.
Pro
Die Begründung ist schlicht, aber richtig: In seinem knappen schriftlichen Statement zum Literaturnobelpreis lobt das Stockholmer Auswahlgremium die „große emotionale Stärke“ in den Erzählungen des diesjährigen Preisträgers Kazuo Ishiguro (siehe Kasten).
Geboren wurde Kazuo Ishiguro 1954 im japanischen Nagasaki. Im Alter von fünf Jahren zog er mit seinen Eltern nach Großbritannien, wo er bis heute mit Frau und Tochter lebt. Nach Japan kehrte er erst als Erwachsener wieder zurück. Beide Länder und ihre neuere Geschichte haben ihre feste Rolle in seinen Werken. Und doch: Ishiguro ist kein autobiografischer Brückenbauer und erst recht kein politischer Autor. Er ist ein Erzähler, und zwar ein außergewöhnlicher.
Die Vorsitzende des Gremiums, Sara Danius, bezeichnet ihn als eine Mischung aus Jane Austen und Franz Kafka. Das ist eine sympathische Beschreibung dessen, was den Stil des diesjährigen Preisträgers ausmacht, und sie trifft es noch dazu sehr gut: Leises, präzises wie zurückgenommenes Erzählen eigentlich unspektakulärer Augenblicke, in denen große gesellschaftliche Verhältnisse verhandelt werden, die schier erdrücken könnten, aber von allen eben genommen werden müssen, wie sie sind – von den Figuren wie auch von denen, die über sie lesen.
Begründung der Schwedischen Akademie
Der Literaturnobelpreis geht an Kazuo Ishiguro, der in Romanen von starker emotionaler Kraft den Abgrund unserer Illusion einer Verbindung mit der Welt aufgedeckt hat. Der Preisträger sei „eine Mischung aus Jane Austen und Franz Kafka“ mit einer Prise Marcel Proust.
Kazuo Ishiguro über den Preis
„Das ist eine großartige Ehre, vor allem, weil es bedeutet, dass ich in die Fußstapfen der größten Autoren trete, die je gelebt haben, das ist also eine wunderbare Auszeichnung. Die Welt ist gerade sehr verunsichert und ich hoffe, dass alle Nobelpreise Kraft für etwas Positives in der Welt sein können.“
Die Kritiker
Literaturkritiker Denis Scheck: „Die schwedische Akademie hat mit dieser Entscheidung ihr Brett vor dem Kopf in ein Fenster zur Welt verwandelt.“ Ishiguro sei „ein idealer Brückenbauer nicht nur zwischen Japan und Großbritannien, sondern auch zwischen der fantastischen Literatur und Science Fiction hin zum bürgerlichen Roman.“
Literaturkritikerin Elke Heidenreich lobte es als „eine ganz fabelhafte Entscheidung“. Ishiguros Literatur verbinde sanft und leise.
Das Internationale Auschwitz Komitee meldete sich freudig: „Ishiguro hat in seinem Werk viel zu einem Erinnerungsprozess beigetragen, der weltweit Menschen berührt und auf die Reise zu sich selber schickt.“ Für ihn spielten Fragen nach persönlicher Schuld, bleibender Verantwortung und der Erinnerung eine zentrale Rolle.
Am schönsten zeigt sich das in Ishiguros bekanntestem Werk „Was vom Tage übrig blieb“ von 1989, für das er den Man Booker Prize bekam. Wer in den letzten zehn, zwanzig Jahren Englisch als Abi-Prüfungsfach belegt hat, dürfte das Buch kennen, und wer nicht, der hat vielleicht den Film mit Anthony Hopkins und Emma Thompson gesehen. Die Geschichte zieht sich von den zwanziger Jahren bis in die Fünfziger und erzählt von einem Butler und der Frau, in die er sich spät im Leben verliebt.
Es ist keine glückliche Liebe; zu hartnäckig sind die Schatten, die den Butler begleiten, seitdem er sich durch seine Loyalität an den politischen und gesellschaftlichen Niedergang seines Lords nach dem Zweiten Weltkrieg gefesselt hat. Dieses durch ein inneres Korsett verhinderte Zusammenfinden ist in der Tat eine modernere Form von „Stolz und Vorurteil“, nur viel schöner, schlichter und vor allem trauriger, denn am Ende des Tages bleibt wenig übrig, jedenfalls nicht die Liebe. Und weil das Original von Jane Austen rational geprägten LeserInnen im 21. Jahrhundert kaum noch zuzumuten ist, tritt Ishiguros Roman eine würdige Nachfolge an.
Sein Werk entzieht sich gängigen Deutungsmustern, mag in keinen Kanon der Gegenwartsliteratur so recht passen. Das ist keine kokette Exzentrik und erst recht keine Frage geringen Anspruchs, wie hoch oben in den Elfenbeintürmen der literarischen Hochkultur jetzt mal wieder die Nase gerümpft werden wird. Im Gegenteil: Ishiguro kann was, aber er spielt nicht damit. Seine Literatur ist niemals gefällig – im Gegensatz zu den immer ähnlicheren Coming-of-age-Pastellwelten eines Haruki Murakami, den viele als Favoriten für den Nobelpreis 2017 gehandelt hatten.
Ishiguro ist da als Brite ganz klassisch: Er macht eben sein Ding. Er schreibt Literatur, die da ist, um gelesen zu werden. Die ihre Leser berührt und von ihnen geliebt werden kann, aber auch manchmal schmerzt und ausgehalten werden muss. Deshalb sind die beiden Verfilmungen, die aus ihr entstanden, sehr gut und nicht peinlich wie viele andere.
„Alles, was wir geben mussten“ folgt dem zweiten großen Roman Ishiguros. Der geht in eine völlig andere Richtung als das Frühwerk: Er erzählt von einer Gruppe junger Menschen, Klonen, die quasi als Ersatzteillager für Organe leben und sterben müssen, wenn sie diesen Zweck erfüllt haben. Eine eigentlich wilde Dystopie, aber auch hier spielt sie wieder die größte Rolle: die Liebe, die stärker als alles ist und gleichzeitig verlieren muss. Und das ist eine universelle Erkenntnis.
„Die meisten von uns sind Butler“ hat der Autor im Interview einmal über das Identifikationspotenzial seiner Figuren gesagt. „Oft wissen wir nicht, welchen Beitrag wir damit leisten. Wir hoffen nur, es möglichst gut zu machen.“ Deshalb habe er die metaphorische Figur des Butlers Stevens gewählt. Selten, dass ein Autor die Gedankengänge hinter seinem Werk so bereitwillig offenlegt. Man kann das entzaubernd finden. Aber bei Ishiguro ist Magie da, wo sie hingehört: in der Welt, die seine Leser betreten dürfen. (Johanna Roth)
Contra
Gelesen hatte ich „Der begrabene Riese“ von Kazuo Ishiguro nicht wegen Kazuo Ishiguro, sondern wegen der euphorischen Rezensionen – und des Themas. Wobei ich mich doch leise wunderte, dass sich der Autor geriatrischer Liebesgeschichten („Was vom Tage übrig blieb“) und finsterer Dystopien („Alles, was wir geben mussten“) nun dem „dunklen Zeitalter“ zugewendet hatte.
Nun ist über die britischen Inseln des fünften Jahrhunderts nach Christus kaum etwas bekannt. Was könnte sich da alles entfalten in diesem spätantiken Post-Doomsday-Szenario!
So hebt Ishiguro auch an, in einnehmender Märchenonkelhaftigkeit: „Nach den kurvenreichen Sträßchen und Wiesen, für die England später berühmt wurde, hättet ihr lange gesucht. Gefunden hättet ihr stattdessen endlose Weiten, ödes, unbestelltes Land; hier und dort einen Saumpfad über felsiges Bergland, durch karges Moor. Die von den Römern zurückgelassenen Straßen waren bis dahin meist schon geborsten oder überwuchert, oft von der Wildnis zurückerobert.“
An den Küsten landen Angeln und Sachsen an, es geht blutig zu, was das alte Ehepaar Axl und Beatrice aber nicht interessiert. Es sind einfache Leute, die sich auf die Suche nach ihrem Sohn machen – durch ein Land, auf dem der Nebel eines rätselhaften Vergessens liegt. Die Völker vergessen ihre Geschichte, nah und fern, wie auch unsere Helden im Verlauf der Suche beinahe ihr Ziel vergessen.
Als Parabel auf das Recht zur Erinnerung und die Macht des Entfallens liest sich das für eine ganze Weile packend und unheimlich, auch wenn sich bei grassierender Amnesie keine rechte Geschichte in Gang setzen mag. Es rührt die Zärtlichkeit, mit der Beatrice und Axl einander zugewandt sind. Und meisterhaft ist die Beschreibung der wechselnden und immer irgendwie versinkenden Landschaften.
Dann allerdings kommen die Kobolde ins Spiel. Keine metaphorischen, keine Trugbilder. Kobolde. Und Hexen. Teuflische Mönche, Drachen, Menschenfresser und Gawain, ein Don Quixote der Tafelrunde und alter Kumpel von König Artus. Verächter des Genres kommen spätestens hier ins Seufzen – ohne dass Fantasy-Freunde auf ihre Kosten kämen bei diesem „Die Nebel von Avalon“ für Leute, die dieses niemals lesen würden.
Am Ende ist es, als hätte sich ein klassischer Komponist aus purer Spielfreude am Schlager versucht. Ein stilistischer Ausfallschritt, mehr nicht. (Arno Frank)
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