Premieren dank Corona: Man soll niemals „nie“ sagen
Corona nötigt uns Verhaltensänderungen ab, im Guten wie im Schlechten. Wir haben unsere KollegInnen gefragt, was in dieser Zeit ihr erstes Mal war.
Jede Menge Farbe
Mit einem Menschenauflauf hatte ich nicht gerechnet. In Irland herrscht – wie in den meisten europäischen Ländern – Ausgangsverbot. Aber die Nachbarn, vorbildlich mit Sicherheitsabstand, wollten sich das ungewöhnliche Schauspiel nicht entgehen lassen: Ich stand auf einer Leiter und strich zum ersten Mal in meinem Leben Fenster. Ab und zu brandete Zwischenapplaus auf, wenn ich mit einem Fenster fertig war.
Ein Zuschauer vermutete jedoch, dass mein plötzlicher Heimwerker-Eifer mit einer Sars-CoV-2-Infektion zusammenhängen könnte. Er schlug vor, zu googeln, ob Hyperaktivität zum Krankheitsbild gehöre. Ein anderer meinte, dass ich später bei ihm die Fenster streichen könnte, da in Anbetracht des großen Eimers wohl jede Menge Farbe übrig sein würde.
Ich hatte mich tatsächlich im Baumarkt verrechnet. Wahrscheinlich war ich von dem reichhaltigen Angebot in dem Laden beeindruckt. Ich hatte die gesamte Fensterfläche mit der Anzahl der Fenster multipliziert, weil ich nicht daran gedacht hatte, dass das Glas nicht gestrichen wird. In meinem Fall galt das jedoch nur bedingt. Ich muss noch mal in den Baumarkt, um eine Flasche Terpentin zu besorgen. Einen Eimer Wandfarbe habe ich bereits gekauft, weil die Ausgangssperre wohl verlängert wird. Ich werde vorerst jedoch von weiteren Freiluft-Heimwerkeraktivitäten absehen, weil mich die Polizei sonst wegen einer nicht genehmigten öffentlichen Veranstaltung mit einem Bußgeld belegen könnte.
*Ralf Sotscheck, 66 Jahre, Korrespondent für Irland und Großbritannien*
„Nosferatu“ für alle
Im Innenhof mit der Nachbar-WG über Beamer einen Stummfilm, „Nosferatu“, an die Hauswand projiziert und mit allen auf den Balkonen gemeinsam angeschaut.
Ein Hochbeet angelegt für meine Eltern, Risikogruppe und in freiwilliger Quarantäne. Scheint ja ein Trend zu sein.
Auf einem Parkplatz angestanden, um im Baumarkt einzukaufen.
Nicht wirklich Ostern gefeiert.
Mich über eine Videokonferenz mit Freunden betrunken.
Meine Nachbarn näher kennengelernt und für sie eingekauft.
Das Gefühl einer echten gesellschaftlichen Krise verspürt, als ich vor leeren Nudelregalen stand.
*Jean-Philipp Baeck, 37 Jahre, SEO-Redakteur*
Schnipp, schnapp
Sechste Woche Homeoffice und fünfter Monat nach dem letzten Friseurbesuch. Der Blick in den Spiegel offenbart Grausliches. Das, was mal ein Pony war, hängt am Kinn, ausgeblichene Strähnchen sträuben sich gegen Kamm und Bürste. Alle Warnungen vor Selbstbehandlung sind bei dem Anblick egal: Gehirn aus, Laptop an.
Auf Youtube gibt es massenweise Haarschneidetutorials, nach dem Zufallsprinzip wird eines genommen, das ungefähr zur ehemaligen Frisur passt. Der Mann sieht professionell aus und hat die Haare schön. Los geht’s. Er erklärt die ersten Schritte, ich mache das nach. Schon der erste Versuch geht in die Hose. Versuche mal jemand, über Kopf alle Haare genau in der Mitte zusammenzuhalten, gerade herunterzuziehen und gleichmäßig abzuschneiden. Klingt einfach, ist es aber nicht. Das desaströse Ergebnis lässt sich gut mit einem zweiten Spiegel von hinten betrachten.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Zweiter Versuch. Schnipp, schnapp – wieder nicht so, wie es der Meister vorführt, aber diesmal einigermaßen gerade. Egal, muss mich ja nicht von hinten sehen. Weiter zum sensibelsten Teil, dem Pony. Die guten Vorsätze – bloß nicht zu kurz! – sind in dem Moment vergessen, wenn die Schere ansetzt. Der Trick dabei: Um einen sanften Übergang zu den Seiten hinzubekommen, sollen die akkurat abgeteilten Strähnen einmal um 180 Grad gedreht werden.
Irgendwas ist falsch gelaufen, sehe aus wie eine Romulanerin („Star Trek“, wer’s kennt): Mitte lang, Seiten kurz. Also alles noch mal, wieder drehen, die Strähnchen zwischen zwei Finger quetschen und absäbeln. Jetzt natürlich noch kürzer, sonst passt das nicht. Das Ergebnis treibt mich zur Rotweinflasche. Vorteil: Ich verlasse das Haus nur noch im Ausnahmefall und komplett vermummt mit Sonnenbrille, Gesichtsmaske und Basecap.
*Petra Dorn, 61 Jahre, Assistenz Chefredaktion*
Nase im Gras
Weil sonst nichts hilft, krabbeln wir schließlich auf allen vieren über die Wiese. Wir tasten knubbelige Graswurzeln ab, befingern trockene Halme. In der Hoffnung, dass sich nicht kürzlich ein Hund hier erleichtert hat, befühlen wir jede Stelle des sandigen Bodens. Irgendwo muss es doch sein, das Ding. Erst als Spaziergänger vorbeikommen, denke ich, dass wir vielleicht etwas seltsam aussehen, so mit der Nase im Gras.
Weil die Berliner Parks coronamäßig voll waren, sind wir raus nach Brandenburg und haben es mit Geocaching probiert. Das ist eine Art Schatzsuche per GPS-Daten, die man auf der gleichnamigen Seite im Internet findet. Es gibt Tipps, jeder kann suchen. Wer will, kann auch selbst Sachen verstecken und auf der Seite eintragen. Eine Karte zeigt: Unzählige Dinge sind in der Landschaft versteckt. Man muss sie nur finden.
Das kann ganz schön knifflig sein. Auf der Wiese brauchen wir alle Tipps. Man habe einen freien Blick auf den See, heißt es. Das hilft nicht wirklich. Wir gleichen unseren Standort noch mal mit den GPS-Daten ab. Schließlich stoßen wir auf weißes Plastik, das in die Erde eingelassen ist. Wir ziehen ein Röhrchen heraus, schrauben es auf. Und tragen uns – wie viele vor uns – freudig in ein kleines Büchlein ein zum Beweis: Wir haben es gefunden.
Die Kinder sind jetzt angefixt. Sie wollen sofort weiter zum nächsten Cache. Wir finden an diesem Tag Verstecke in aufwendig ausgehöhlten Aststücken, in Baumstümpfen, in einer alten Dose, in einem präparierten Pilz. Alles in einem Umkreis von wenigen Kilometern. An Orten, wo wir schon spazieren waren, aber bislang achtlos vorbeigelaufen sind.
Für diesen Spaß kann man auch mal auf allen vieren über eine Wiese krauchen. Kleiner Nachteil: Man glotzt mitten in der Natur ziemlich viel auf sein Smartphone. Nach zwei Tagen Geocaching ist die Familie happy, aber mein monatliches Datenvolumen am Ende.
*Antje Lang-Lendorff, 42, Redakteurin der taz am Wochenende*
Zoom entdeckt
Ich bin zum ersten Mal in meinem Leben mit einer großen Tupper-Schüssel zu einem Restaurant in der Nachbarschaft gegangen, um Essen abzuholen.
Eine Webcam benutzt.
Zoom benutzt.
Ich bin kurz davor, ein Smartphone zu kaufen, um die Tracing-App zu laden.
Ich habe jetzt erstmals drei Gesichtsmasken, alle hässlich.
Ich habe zum ersten Mal in einem Hotel auf dem Zimmer gefrühstückt, weil Buffets nicht mehr erlaubt sind.
Ich war zum ersten Mal in Britz und in Marienfelde mit dem Rad, weil man Berlin kaum noch verlassen darf.
Ich habe erstmals Ruhe in meinem Hinterhof, weil Tegel faktisch geschlossen ist.
Ich habe zum ersten Mal eine Pastinakensuppe gekocht, weil die Mittagstische alle geschlossen sind.
*Ulrike Herrmann, 56 Jahre, Wirtschaftsredakteurin*
Revolution
Die Pandemie hat etwas extrem Sonderbares bewirkt: Ich koche. Für mich, der sich vor Corona wirklich jeden Tag der Woche außer Haus verköstigte und der jeglicher Begabung für Kochkünste unverdächtig war, ist das Kochen ein revolutionärer Akt.
Meine winzige Küche, sonst ein Leergutlager, beherbergt neuerdings eine Induktionskochplatte, Töpfe, Pfannen und den ganzen anderen Kram. Mein Kühlschrank, bisher das Zuhause von Kaltgetränken, kühlt nun echte Lebensmittel. Pellkartfoffeln sind längst Routine, meine Nudeln haben inzwischen den richtigen Biss, und der besondere Stolz meiner Küche war kürzlich ein nahezu perfekt gebratenes Steak. Nur die Saucen verweigern sich bisher meiner kulinarischen Revolution und zeigen sich pampig. Aber wie meinte jüngst die Kanzlerin: Bei Corona stehen wir erst am Anfang. Die Saucen und ich, wir werden noch Freunde.
*Manu Schubert, 36 Jahre, taz-Verlagsredakteur*
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Die Wahrheit
Glückliches Jahr