Psychologe über Suizid als Tabuthema: „Prävention kann im entscheidenden Moment Leben retten“
Viele Medien scheuen sich, über Suizid zu berichten. Dabei kann gute journalistische Arbeit mit Vorurteilen brechen, sagt der Psychologe Frank Schwab.

taz: Herr Schwab, vor kurzem haben Sie in der neuen Broschüre des Nationalen Suizidpräventionsprogramms geschrieben, dass die mediale Tabuisierung von Suizid ein Ende haben muss. Warum scheuen sich Medien überhaupt davor?
Frank Schwab: Diese ablehnende Haltung gibt es schon seit Jahrzehnten. Angefangen hat es damals mit Johann Wolfgang von Goethes fiktivem Roman „Die Leiden des jungen Werther“. Damals wurde vermutet, dass sich einzelne junge Menschen, ähnlich wie der Protagonist des Romans, das Leben nahmen. Wie dramatisch der Effekt wirklich war, ist umstritten. Bei medialer Berichterstattung gibt es aber definitiv prominente Fälle, die nachweisbar zu Nachahmungstaten geführt haben. Medienschaffende sind also besorgt, dass ihr Beitrag zu weiteren Todesfällen beitragen könnte.
Hilfe durch Telefonseelsorge
Wenn Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie darüber mit jemandem. Sie können sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (08 00/1 11 01 11 oder 08 00/1 11 02 22) oder www.telefonseelsorge.de besuchen. Dort gibt es auch die Möglichkeit, mit Seelsorger*innen zu chatten.
taz: Welche Fälle meinen Sie?
Schwab: Der Fußballspieler Robert Enke war so ein Fall, oder der Schauspieler Robin Williams. Die Prominenz der Person spielt dabei eine Rolle. Besonders unangemessen ist es, wenn bei prominenten Personen dann auch noch kleinteilig berichtet wird – mit konkreten Handlungsbeschreibungen, die romantisierend gefärbt sind. Die Nachahmung erkennt man daran, dass auch die Suizidmethode der Prominenten kopiert wird. Oder der Ort, an dem sich die Person suizidiert hat. Durch Nennung von expliziten Örtlichkeiten können Hotspots entstehen, an denen sich Menschen gehäuft das Leben nehmen – wie die Golden Gate Bridge in San Francisco. Um Suiziden vorzubeugen, sind die Amerikaner baulich dagegen vorgegangen, sodass es heute deutlich schwieriger ist, dort von der Brücke zu springen.
Frank Schwab
Jahrgang 1963, ist Professor für Medienpsychologie an der Universität Würzburg. Zudem ist er Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft.
taz: Der ehemalige Gesundheitsminister Karl Lauterbach hatte einst vorgeschlagen, als Suizidprävention Netze unter Brücken zu spannen. Das ist also tatsächlich eine wirksame Praxis?
Schwab: Solche Präventionen können in einem entscheidenden Moment das Leben retten. Manche Menschen stecken in einer akuten Krise, plagen sich mit suizidalen Gedanken und finden dann nicht sofort Hilfe. Möglicherweise fassen sie den Entschluss, sich das Leben zu nehmen – können aber durch ein Spannnetz am Suizid gehindert werden. Sie laufen dann keineswegs einfach zur nächsten Brücke. Wertvolle Zeit für ein Umdenken und Neubewerten entsteht, das kann Leben retten. Ähnlich war es bei der Verwendung von Medikamenten zur Selbsttötung, hier wurden die Packungsgrößen reduziert und diese Maßnahme hatte nachweislich auch einen Effekt. Was glauben Sie, wie sich die meisten Menschen in den USA das Leben nehmen?
taz: Mit einer Schusswaffe, nehme ich an?
Schwab: Genau. Davor schützt uns das deutsche Schusswaffengesetz. Etwa 7,5 Prozent aller Suizide hierzulande werden mit einer Waffe begangen, unter Jägern oder Sportschützen ist sie nach wie vor eine bevorzugte Suizidmethode. In Deutschland erhängen sich 41 Prozent der sich Suizidierenden.
taz: Kommen wir zurück zu den Medien. Wie kann der Journalismus dazu beitragen, dass Suizide verhindert werden?
Schwab: Wir dürfen das Thema nicht tabuisieren. Verstehen Sie mich nicht falsch – bei so einem sensiblen Inhalt muss der Journalismus den Pressekodex einhalten, es sollte also nicht über die Methodik oder den Ort berichtet werden. Aber dadurch, dass Suizid als Thematik häufig gemieden wird, gibt es viele Mythenbildungen, die wiederum die Prävention erschweren.
taz: Was sind denn bekannte Mythen?
Schwab: Es wird oft angenommen, dass sich jemand letztendlich doch nicht das Leben nimmt, wenn er vorher darüber gesprochen hat. Das ist Quatsch. Die meisten Menschen, die Suizid begehen, kündigen ihn vorher an. Viele glauben auch, es gäbe viele Selbsttötungen im Herbst und Winter, wegen der dunklen Monate. In Wirklichkeit gibt es die meisten Selbsttötungen aber im Frühling und die wenigsten im Winter. Außerdem gibt es ein Ost-West-Gefälle: Im Osten gibt es höhere Suizidzahlen, auch heute noch. Dass die größte Risikogruppe aus Männern besteht, die über 60 sind und das Rentenalter antreten, wissen die wenigsten. Es gibt also vieles, das zu Suizid erforscht wurde, aber zu wenig davon wird an die Öffentlichkeit getragen, weshalb viele präventive Maßnahmen nicht gut greifen können. Weil die Notwendigkeit nicht erkannt wird, fehlen oft finanzielle staatliche Mittel, und Betroffene sind auf ehrenamtliche Hilfsmaßnahmen angewiesen. Teilweise glauben sogar Mediziner an Mythen.
taz: Wie können Medienschaffende mit der Herausforderung umgehen?
Schwab: Der Journalismus darf keine Furcht davor haben, über Suizid zu berichten, sollte sich aber an die Presseethik und Empfehlungen zur Berichterstattung halten. Begriffe wie Selbstmord oder Freitod sollten gemieden werden. Die Sorge gilt aber nicht nur für den Journalismus: Die breite Öffentlichkeit hat Angst davor, über Suizid zu sprechen, weil sie sich sorgen, dabei etwas falsch oder sich gar strafbar zu machen. Auch, weil sie die Gesetzeslage nicht kennen. Von Laien erwartet der Gesetzgeber weder diagnostische noch hellseherische Fähigkeiten. Wenn jemand eine Andeutung macht, die so oder so interpretiert werden kann, wird man nicht zwingend zur Rechenschaft gezogen. Dasselbe gilt für suizidale Fantasien, die eine Person mit sich rumträgt. Unterlassene Hilfeleistung greift erst, wenn ein Mensch klar ankündigt, sich das Leben zu nehmen, und man das nicht an die Polizei kommuniziert. Das gilt übrigens auch für Therapeuten.
taz: Gibt es Staaten, die bezüglich Berichterstattung ein Vorbild für Deutschland sein könnten?
Schwab: Ja, Österreich hat hier viel unternommen. Die haben zum einen ein reges Forschungsprogramm mit kostenlosem Material für Studierende, ein Konzept für eine nationale Kriseninterventionshotline, Schulungsprogramme für Journalisten und den Papageno-Medienpreis (Auszeichnung für suizidpräventive Berichterstattung, Anm. d. Red). Zum anderen wird der Medienkodex, das wäre hier bei uns der Pressekodex, stärker durch Schulungen und Monitoring unterstützt. Die Vorgaben sind im Vergleich zum deutschen Pressekodex, der eher zur Zurückhaltung auffordert, ausführlicher und durch konkrete Leitfäden gefördert.
taz: Wie könnte der deutsche Journalismus dahin kommen?
Schwab: Sensibilisierung über Suizid sollte verpflichtend im Rahmen der Journalistenausbildung stattfinden. Junge Journalisten sollen etwas über Werthereffekte lernen. Oder auch über den Papageno-Effekt, der besagt, dass Aufklärung durch Menschen mit eigenen suizidalen Erfahrungen, Suizide verringern kann. Sie sollen lernen, worauf man besonders achten sollte und was eine angemessene Berichterstattung wäre.
taz: Und wie könnte die Politik unterstützend eingreifen?
Schwab: In Kassel gibt es suizidpräventive Medienarbeit. Die Universität gibt das Nationale Suizidpräventionsprogramm heraus, das Informationen für Medienschaffende zusammenstellt und Empfehlungen für die Berichterstattung gibt. Die Arbeit wird über Projektgelder finanziert. Ist das Projektgeld weg, ist auch die Medienarbeit wieder weg. Hier wäre es schön, wenn solche Einrichtungen dauerhaft finanziert werden, damit Journalisten sich jederzeit dahin wenden können und Experten zur Verfügung stehen. Und dann gibt es da noch die neuen Medien, das Darknet zum Beispiel, wo sich Menschen zum Suizid verabreden. So was muss überwacht werden. In den USA hat eine Frau einen Chatbot-Anbieter verklagt, weil sich ihr Sohn mutmaßlich in die Chatbot-Figur verliebt und sich anschließend das Leben genommen hat.
taz: Was ist da genau vorgefallen?
Schwab: Die Eltern waren schockiert, weil sie nichts ahnten. Aber der Sohn hatte sich immer mehr zurückgezogen. Statt dem Jungen zu sagen, dass er sich professionelle Hilfe holen solle, romantisierte der Chatbot die Suizidgedanken des Jungen. Früher haben Suchmaschinen wie Google auch nicht erkannt, wenn Menschen sich suizidieren wollten, heute kommt sofort die Nummer der Telefonseelsorge, wenn ich „Suizid“ als Suchbegriff eingebe. Darauf hat natürlich nicht die deutsche Regierung allein Einfluss, weil das multinationale Dienstanbieter sind und jeder Staat eine andere Rechtslage hat. Aber es gibt Stellschrauben, an denen die Politik drehen könnte.
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