Präsidentschaft Guatemalas: Die endlich teilhaben wollen
Guatemalas Indigene setzen große Hoffnungen in den gewählten Präsidenten Bernardo Arévalo. Er kann nun vor allem dank ihnen sein Amt antreten.
Jaime Choc Cucul rückt den Strohhut zurecht, bevor er spricht: „Unser Protest kommt von ganz unten. Alle, die so wie ich nach Guatemala-Stadt gefahren sind, um vor dem Ministerio Público oder dem Congreso zu protestieren, sind auf eigene Rechnung gefahren“, sagt der 41-Jährige. Er ist ein mittelgroßer, stämmiger Mann.
Die beiden Orte, die er nennt – die Generalstaatsanwaltschaft und das Parlament –, sind zwei Drehscheiben der Macht, von denen der designierte Präsident Bernardo Arévalo und seine Partei mit allerlei juristischen Winkelzügen ferngehalten werden sollten.
„Dagegen haben wir landesweit protestiert. Ich war drei- oder viermal zu den Protesten in der Hauptstadt“, sagt Choc Cucul, der aus der Kleinstadt Cahabón im Verwaltungsdistrikt Alta Verapaz stammt.
Er ist ein Indigener aus dem Volk der Maya Q’eqchi und zugleich Autoridad Ancestral – so werden die spirituellen und politischen Führer:innen der indigenen Völker genannt. Seit dem 2. Oktober haben sie landesweit deutlich an Bekanntheit gewonnen und sind zu Gesichtern des Widerstands gegen ein hyperkorruptes System geworden. An dem Tag begann die landesweite Rebellion gegen den Versuch, den am 20. August mit deutlicher Mehrheit gewählten Präsidenten Bernardo Arévalo nicht ins Amt kommen zu lassen.
Ausgangspunkt für die juristische Offensive, die Arévalo als Versuch eines „juristischen Staatsstreichs“ bezeichnete, war die Generalstaatsanwaltschaft. Rund um das von einem mächtigen, mit Transparenten dekorierten Metallzaun eingefassten Gebäude finden nun seit mehr als 100 Tagen täglich Veranstaltungen, Kundgebungen, Mahnwachen, aber auch Workshops und Konzerte statt.
Indigene wehren sich gegen Diskriminierung
„Für uns ist ein Wendepunkt erreicht. Heute fordern wir unsere Rechte offensiv ein, verteidigen unsere Territorien und wollen teilhaben an der gesellschaftlichen Entwicklung“, erklärt Choc Cucul, der wie alle indigenen Autoritäten des Landes zur Vereidigung des neuen Präsidenten für mehrere Tage nach Guatemala-Stadt fahren wird. „Wir verteidigen die Reste unserer Demokratie und wollen Bernardo Arévalos Weg zur Präsidentschaft begleiten.“
Präsenz zeigen, insistieren und die neue Regierung unterstützen, lautet die Strategie der basisdemokratisch organisierten Indigenen, die rund 44 Prozent der Bevölkerung stellen, über deren Köpfe aber traditionell hinwegregiert wird.
Genau das soll sich ändern, und dafür engagiert sich auch Wendy López. „Wir sehen uns einer institutionalisierten Diskriminierung und latentem Rassismus gegenüber und wehren uns“, sagt die indigene Rechtsanwältin der Menschenrechtsorganisation Udefegua.
Die Kernursache ist Korruption
Sie stammt aus der Region Sololá, gehört den Quiché-Mam an und hat als erste Frau aus der indigenen Gemeinde Panajachel das juristische Staatsexamen absolviert – dank eines Stipendiums der jesuitischen Universität Rafael Landívar. „An der staatlichen Universität San Carlos hätte ich kaum eine Chance gehabt, musste aber nach Quetzaltenango ziehen, um studieren zu können. In meiner Region wäre das unmöglich gewesen“.
Es fehlt an Infrastruktur in den indigen geprägten Regionen Guatemalas: zu wenige, meist miese Schulen und Gesundheitseinrichtungen, dazu oft nur holprige Schlaglochpisten. Das sind Realitäten, die indigenes Leben in nahezu allen Regionen Guatemalas prägen.
„Eine Kernursache dafür ist die Korruption. Investitionen in indigen geprägte Regionen Guatemalas verschwinden überproportional häufig und zementieren die Rückständigkeit unserer Gemeinden“, kritisiert die 33-Jährige, die eine Reihe von Gemeinden juristisch vertritt.
Wegen fingierter Beweise in Haft
Bernardo Arévalo, 64 Jahre alt und Soziologe mit diplomatischer Erfahrung, ist nicht nur der Hoffnungsträger des indigenen Guatemalas, sondern insgesamt einer Zivilgesellschaft, die bisher systematisch kriminalisiert und ins Exil gedrängt wurde.
Ein Beispiel dafür ist Bernardo Caal Xol. Der indigene Umweltaktivist und Lehrer aus Cahabón hat Widerstand gegen den Bau von Wasserkraftwerken organisiert, die über die Köpfe der indigenen Gemeinden hinweg genehmigt wurden. Nach einer Verurteilung aufgrund fingierter Beweise saß er trotz internationaler Proteste auch der Vereinten Nationen mehr als vier Jahre im Gefängnis in Cobán. Er ist kein Einzelfall.
Bislang hat die indigene Bevölkerung nie von den schwachen demokratischen Strukturen im Land profitiert. Das soll sich nun ändern. „Wir haben erkannt, dass eine funktionierende Demokratie die besten Aussichten für die indigenen Völker bietet und glauben an Bernardo Arévalo, der angetreten ist, um die omnipräsente Korruption zu bekämpfen“, sagt Caal Xol.
Indigener Widerstand ist ein Faktor geworden
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Die indigene Bevölkerung ist in den vergangenen Jahren sichtbarer geworden. Zum einen eine Folge von mehr Auslandserfahrung und Arbeitsmigration – vor allem in die USA. Zum anderen ein Ergebnis der digitalen Revolution, die zu mehr Information in den oft vernachlässigten indigenen Gemeinden führte und Vernetzung vereinfachte.
Erstes deutliches Signal dafür war 2019 der vierte Platz bei den Präsidentschaftswahlen für Thelma Cabrera, erste indigene Präsidentschaftskandidatin seit der Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú, die 2007 angetreten war. Cabrera erhielt gut 10 Prozent der Stimmen, seitdem ist indigener Widerstand ein Faktor geworden. Dabei spielen indigene Medien genauso eine Rolle wie indigene Anwaltsbüros.
Wendy López sieht die indigene Bewegung erst am Anfang. „Alle Indikatoren belegen, dass wir enormen Nachholbedarf haben: Bildung ist für uns das Trampolin in unsere Zukunft“, sagt die Juristin, die gerade einen immensen Erfolg zu feiern hat: ein Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte von Mitte Dezember. Dieses verpflichtet die Regierung Guatemalas, indigene Gemeinden vor Großprojekten auf dem Territorium, das sie bewohnen, zu konsultieren und um Einverständnis zu bitten.
De facto muss Guatemalas Regierung einen neuen Rechtsrahmen schaffen, „der die kollektiven Rechte der indigenen Völker als eigenständige rechtliche, soziale und politische Einheiten innerhalb des Nationalstaats wahrt“, so steht es in dem Urteil. Die Umsetzung liegt nun in den Händen der neuen Regierung von Bernardo Arévalo.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Jeder fünfte Schüler psychisch belastet
Wo bleibt der Krisengipfel?