Präsidentenwahl in Ägypten: Bis um die letzte Stimme

Der Präsidentschaftskandidat Abdul Moneim Abul Futuh hat eine politisch bunte Anhängerschaft. Vor allem die Menschen auf dem Land haben hohe Erwartungen an ihn.

Wahlplakate mit den Kandidaten Hamdin Sabahi (oben) und Abdul Moneim Abul Futuh (unten). Bild: dpa

KAIRO taz | Der präsidiale Wahlkampf beginnt wie der Arbeitstag der meisten Einwohner Kairos. Die zwei Fahrzeuge des Kandidaten Abdul Moneim Abul Futuh stecken im Stau fest. Ein bescheidener Konvoi des Mannes, der nach dem höchsten Amt im Land am Nil strebt: zwei Leibwächter, ein Fotograf, drei Wahlkampfmanager, ein Journalist. Ziel ist das Nildelta im Norden.

Die Leibwächter versuchen verzweifelt zu verhindern, dass sich ein anderes Fahrzeug zwischen sie und ihren Schutzbefohlenen drängt. Ein hoffnungsloses Unterfangen.

Abul Futuh gilt als einer der aussichtsreichsten Kandidaten für das ägyptische Präsidentenamt. Der Arzt hat eine ungewöhnliche politische Karriere hinter sich.

Er ist ein Aussteiger aus der Muslimbrüderschaft, die ihn letztes Jahr wegen seiner liberalen Ansichten und nach Ankündigung seiner Kandidatur aus ihren Reihen ausgeschlossen hat.

Abul Futuh hat den Weg der politischen Öffnung beschritten. Seine islamistische Herkunft ist dennoch bei aller Weltoffenheit nicht zu übersehen. In den 70er Jahren erlangte er Berühmtheit, als er – als Studentenführer der Islamischen Gruppen – dem damaligen Diktator Anwar as-Sadat ins Gesicht sagte, dieser sei nur von Heuchlern umgeben. Sadat brach das Treffen ab.

Am Mittwoch und Donnerstag sind die 82 Millionen Ägypter zum ersten Mal in der Geschichte in einer freien Wahl aufgerufen, einen Präsidenten zu bestimmen. Rund

52 Millionen Wähler sind registriert. Es ist die zweite freie Wahl der Arabischen Revolution nach der in Tunesien. Zu den wichtigsten Kandidaten gehören Amr Mussa (ehemaliger Außenminister des 2011 gestürzten Diktators Mubarak; Symbol: Sonne), Abdul Moneim Abul Futuh (unabhängiger Islamist; Symbol: Pferd), Mohammed Morsi (Muslimbrüder; Symbol: Waage) und Ahmed Schafik (Mubaraks letzter Premierminister, Symbol: Leiter).

Frauen treten nicht an. Erhält kein Kandidat die absolute Mehrheit, gibt es eine Stichwahl am 16./17. Juni. Das regierende Militär hat versprochen, bis 30. Juni die Macht abzugeben.

Die Islamischen Gruppen entwickelten sich später zu einer militanten Bewegung. Abul Futuh schloss sich der gemäßigteren Muslimbruderschaft an, stieg in der Organisationshierarchie hoch auf, bis ihm auch dort das islamistische Korsett zu eng wurde. In den letzten Jahren war er zunehmend isoliert – bis hin zu seinem Rausschmiss.

Anders als der Rest der Muslimbrüder hatte sich Abul Futuh schon lange dem Widerstand gegen die Diktatur verschrieben. Gemeinsam mit Liberalen und Linken war er Teil der „Kifaya“, der „Es reicht“-Bewegung gegen Präsident Mubarak, und damit von der ersten Stunde an bei den Protesten auf dem Tahrirplatz dabei, die im Februar 2011 schließlich zum Sturz des Diktators führten.

In Ruhe beten

Erst als der Stadtrand Kairos erreicht ist, geht es mit dem Kandidatenkonvoi zügiger voran. Eine halbe Autostunde später hält der Tross bei einer kleinen Moschee am Rande der Landstraße. Abul Futuh reicht dem Fahrer sein Jackett und zieht sich allein zum Mittagsgebet in die Moschee zurück; seine Entourage bleibt bei den Fahrzeugen.

Ein paar Minuten, die dem Politiker vergönnt sind, ohne dass er die Handys seiner Wahlkampfmanager im Auto ständig klingeln hört. Interviewanfragen, Terminabsprachen, Auftritte. Welches Gebet er wohl gen Himmel schickt, wenige Tage vor den Präsidentschaftswahlen am 23. Mai?

Die Fahrt geht weiter, fast wie durch Feindesland. Überall auf der Landstraße verkündet ein lächelnder Amr Mussa auf Plakaten seinen Slogan von einem geeinten Ägypten. Der ehemalige Chef der Arabischen Liga gilt neben Abul Futuh als aussichtsreichster Kandidat im Rennen um das Präsidentenamt.

Gelegentlich ist auch Ahmed Schafik, der letzte Premier Mubaraks und ein weiterer Kandidat für das Präsidentenamt 2012, zu sehen. „Es ist schwer vorstellbar, dass ein Mann des alten Regimes, jemand wie Mussa oder Schafik, die Wahl gewinnen könnte. Der Sieger wird ein Repräsentant der Revolution sein“, erklärt Abul Futuh. „Ich hoffe natürlich, dass ich das bin.“

Nationaler Konsens

Abul Futuhs Anhängerschaft ist bunt gemischt – ihn unterstützen sowohl Salafisten als auch der aufsässige und meist jüngere Teil der Muslimbrüder bis hin zu Liberalen und Linken. Wie er die alle unter einen Hut bringen will? Eine Frage, über die er kurz nachdenkt.

„Dass mich Salafisten wie auch Liberale unterstützen, heißt nicht, dass ich deren Ideologie übernehme. Sie sehen mich als den besten Kandidaten, um einen nationalen Konsens herzustellen“, antwortet er diplomatisch.

Abul Futuh spricht davon, dass es für ihn Vorrang habe, den Polizeiapparat zu reformieren und die staatlichen Institutionen von Repräsentanten des alten Regimes zu säubern. Wie er dabei das Verhältnis des zukünftigen Präsidenten zum Militär sieht, das im Moment alle wichtigen Entscheidungen trifft?

„Das Militär darf keine politische Rolle übernehmen und ist in einem demokratischen Staat der gewählten politischen Führung verpflichtet“, sagt Abul Futuh. Das ist eindeutig.

Ein Pferd als Symbol

In Mit Ghamr, einer Kleinstadt im Nildelta, wartet eine Fahrzeugkolonne zumeist Jugendlicher auf den Kandidaten. Hupend, wie auf einer ägyptischen Hochzeit geht es weiter. Die Rückfenster ihrer Autos sind meist mit großen Postern dekoriert.

„Abul Futuh for President“, heiß es dort, daneben prangt ein Pferd, das Symbol des Kandidaten auf dem Wahlzettel – für alle, die nicht schreiben können. Analphabeten gibt es in dieser Gegend viele. Denn obwohl das Nildelta so fruchtbar ist, herrscht hier teilweise bittere Armut. Der Anteil derer, die nicht lesen und schreiben können, dürfte vor allem bei den Frauen um einiges höher liegen als im Landesdurchschnitt, wo auf zehn Ägypter vier Analphabenten kommen.

Man sieht die Frauen in den Dörfern, wo sie in der Mittagshitze im Bewässerungskanal ihre farbenprächtige Wäsche waschen. Trotz gesundheitlicher Gefahren baden dort auch die Kinder, mitten am Tage, obwohl sie eigentlich in der Schule sein sollten.

Die Straße ist blockiert

Die Kandidatenkarawane zieht weiter, in teils halsbrecherischem Tempo. Kurz hinter der Stadt Mansura blockiert ein Sattelschlepper den Weg. Der Fahrer hat angehalten, um etwas Rucolasalat zu kaufen. Es dauert, bis er sich mit der Straßenhändlerin handelseinig ist. Geduldig und resigniert wartet die kleine Verkehrsansammlung auf den Ausgang des Geschäfts – ein Stück Ägypten.

Nicht mehr Wasserräder, sondern Dieselpumpen bestimmen das Bild an den Bewässerungskanälen. Sie am Laufen zu halten stellt eine große Herausforderung dar. Seit Monaten leidet das Land an einer Dieselkrise. Vor den Tankstellen stehen die Menschen stundenlang an, um an den begehrten Kraftstoff zu kommen.

Ein Problem, das der zukünftige Präsident zu lösen hat. Bananenstauden am Rande des Kanals zeugen davon, dass es die Bauern auch in dieser schwierigen Zeit irgendwie schaffen, ihr Land zu bestellen.

„Alles so teuer“

In der Kleinstadt Bilqas haben sie an diesem Tag ein Zelt für Abul Futuh aufgestellt. Erst vor wenigen Tagen war auch Rivale Amr Mussa hier. Für die Bewohner des Deltas ist es eine völlig neue Erfahrung, dass gleich zwei Präsidenten in spe binnen einer Woche vorbeikommen und um Stimmen kämpfen.

Ein deutliches Zeichen, dass die Zeiten Mubaraks vorbei sind, der auf wundersame Weise bei jeder Abstimmung von 90 Prozent der Ägypter das Jawort erhielt. Heute müssen die Präsidentschaftskandidaten auch auf dem Land um jede einzelne Stimme kämpfen.

Vor allem die jüngeren Einwohner von Bilqas bereiten Abul Futuh einen triumphalen Empfang. Der spricht im Wahlkampfzelt von der dringend nötigen Verbesserung des Gesundheitswesens und vom Recht der Jugendlichen auf Bildung. Die meisten in Bilqas wollen, dass der kommende Präsident für mehr soziale Gerechtigkeit sorgt.

Mehr Gerechtigkeit

„Die Einkommen müssen gerechter verteilt werden. Vieles können wir uns einfach nicht mehr leisten, weil alles so teuer geworden ist“, meint Masarawi al-Sayyed. Er wartet mit seinem Tuk-Tuk, wie die Motorrikschas, die Taxis der Armen, genannt werden, auf Kundschaft. Der Bauer, der seinen Eselskarren um die Ecke lenkt, treibt sein Tier an. Er möchte nichts dazu sagen. In Bilqas ist man weder Präsidentschaftskandidaten noch Journalisten gewohnt.

Dass genug Wasser in den Bewässerungskanälen fließt, ist für diese Menschen das A und O ihres Lebens. Also bleiben sie auch bei der Wahl ihres Präsidenten bei dem entsprechenden Bild.

„Ich möchte, dass jemand dem ständigen Diebstahl den Hahn abdreht. Ich habe Jahrzehnte in der Verwaltung gearbeitet und weiß, wovon ich spreche. Die Oberen haben immer in ihre Taschen gewirtschaftet. Vom nächsten Präsidenten erwarte ich, dass er das ändert“, sagt der pensionierte Verwaltungsbeamte Muhammad Said, der Abul Futuh seine Stimme geben wird.

Die Wünsche der Wähler

Genauso wie Nermin Saleh, die gerade mit ihrem Übersetzerstudium fertig ist. „Ich will einen volksnahen Präsidenten, der einen moderaten islamischen Hintergrund vertritt und zeigt, dass der Islam nicht extremistisch ist“, erläutert die modisch gekleidete junge Frau mit Kopftuch und fügt hinzu: „Ich fordere auch, dass meine Rolle als Frau in der Gesellschaft anerkannt wird.“

Yahia al-Gohary, der Frauenarzt, schwärmt vom heutigen Gast in Bilqas. „Wir brauchen jemanden, der das Land nach der Diktatur heilt“, sagt er. Abul Futuh vereine viele politische Strömungen. „Wer immer der nächste Präsident wird, er ist zu Demokratie verpflichtet und weiß, dass er maximal fünf Jahre hat, um die Dinge spürbar zu verändern.“

Der Krämerladenbesitzer Marai Abdallah steht etwas abseits. „Ich will weder einen Muslimbruder noch einen Salafisten, die machen das Land nur kaputt“, sagt er. Abul Futuh traue er nicht, der sei immer noch ein verkappter Islamist. Er will seine Stimme Amr Mussa geben.

Umworbene Bevölkerung

Wer wird der nächste Präsident des bevölkerungsreichsten arabischen Landes? Abul Futuh, der ehemalige Muslimbruder mit liberalen Zügen, der von Anfang an am Aufstand auf dem Tahrirplatz teilgenommen hat? Oder Amr Mussa, der mit dem Manko antritt, ein Mann des alten Regimes zu sein, jedoch viel politische Erfahrung mitbringt; der weniger Wandel, dafür aber die Rückkehr zur Stabilität verspricht? Oder gar einer der elf anderen Kandidaten?

Egal wer gewinnt, für die Ägypter ist es eine völlig neue Erfahrung, zu sehen, wie die Anwärter auf das höchste Amt im Staat unermüdlich um jede einzelne Stimme kämpfen.

Er habe noch nie in seinem Leben so viel gearbeitet, sagt der Fahrer Abul Futuhs, als er in Bilqas auf seinen Chef wartet. Immer wieder treibe ihn der 62-Jährige an, noch schneller zu fahren, wenn er nicht gerade zwischen zwei Auftritten für ein paar Minuten seine Augen schließe.

Es ist sechs Uhr abends, vier Veranstaltungen liegen noch vor Abul Futuh. Der Chauffeur blickt besorgt auf die Uhr. „Ich muss jetzt richtig auf die Tube drücken“, erklärt er und setzt grinsend hinzu: „Wer Ägyptens nächster Präsident werden will, der hat keine Zeit zu verlieren.“

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