Präsident des Lehrerverbands über Krise: „Ich verstehe die Empörung nicht“
Der Präsident des Lehrerverbands Heinz-Peter Meidinger verteidigt das freiwillige Sitzenbleiben. Er regt an, Schulen für Benachteiligte eher zu öffnen.
taz: Herr Meidinger, Ihre Forderung, schlechte SchülerInnen sollten freiwillig sitzen bleiben, hat Empörung hervorgerufen. Wollen Sie wirklich die SchülerInnen dafür bestrafen, dass derzeit kein Unterricht stattfindet?
Heinz-Peter Meidinger: Diese Empörung verstehe ich nicht ganz. Ich bin ja durchaus in dieser Ausnahmesituation für großzügige Versetzungsregeln, Niedersachsen etwa verzichtet in diesem Schuljahr auf das Sitzenbleiben ganz. Mein Vorschlag war nicht, diese zu canceln, sondern nur sehr bewusst davon Gebrauch zu machen. Ich rate Schülern dazu, freiwillig zu wiederholen, insbesondere wenn im ersten Halbjahr viele Leistungen ungenügend oder mangelhaft waren. Das ist eine Chance, Lücken zu schließen.
Wirklich? Sitzenbleiben bringt schon unter normalen Bedingungen wenig.
Das stimmt nicht ganz. Ein Drittel der SchülerInnen profitiert von dem zusätzlichen Jahr. An diese richtet sich mein Appell.
geboren 1954, ist seit 2017 Präsident des Deutschen Lehrerverbands. Zuvor war er Bundesvorsitzender des Deutschen Philologenverbands. Hauptberuflich leitet er das Robert-Koch-Gymnasium in Deggendorf, Bayern.
Das heißt zwei Drittel profitieren nicht. Sollten nicht alle Länder dem Vorbild Niedersachsens folgen?
So pauschal würde ich das nicht sagen. In Niedersachsen ist die Regelung sinnvoll, weil die Sommerferien früh beginnen und den Schüler durch Corona die Chance genommen wurde, sich noch in Tests und Klausuren zu verbessern. Da kann man ja nicht sagen, blöd gelaufen, bleibst halt sitzen. In Bayern beginnen die Ferien aber erst im August.
Die GEW hat vorgeschlagen, derzeit ganz auf Noten und Prüfungen zu verzichten. Unterstützen Sie das?
Das ist in den meisten Bundesländern beim Homeschooling sowieso der Fall. Wir in Bayern haben klar gesagt, während der Zeit des Homeschoolings finden keine Prüfung statt und es werden keine Noten vergeben. Auch weil die Bedingungen zu Hause so unterschiedlich sind. Überhaupt hilft uns derzeit das Starren auf Vorschriften auch nicht viel weiter.
Was meinen Sie?
Wir stellen fest, dass an vielen Schulen die eigentlich von uns bei der Lehrer-Schüler-Kommunikation geächtete WhatsApp neue Urstände feiert. Denn das ist das Medium, bei dem man am ehesten die ganze Klasse beieinander hat. Da muss man abwägen: Wenn es funktioniert, sollte man ein Auge zudrücken.
Gilt das auch für die Abschlussprüfungen, die ja in 14 Bundesländern noch stattfinden sollen. Sollte es einen Corona-Bonus geben?
Warten wir doch mal ab, wie die Ergebnisse ausfallen. In Rheinland-Pfalz und Hessen sind die Prüfungen schon fast durch. Wenn jetzt Bundesländer doch darauf verzichten, bekommen wir ein massives Gerechtigkeitsproblem zwischen Schulen mit und ohne Prüfungen. Denn eine Abiprüfung führt in der Regel dazu, dass die Vornoten um zwei Zehntel absinken.
Auf Prüfungen zu verzichten wäre ungerecht, weil die SchülerInnen zu gut abschneiden?
Der Verzicht führt zu weniger Vergleichbarkeit und mehr Ungerechtigkeit, denn diese Corona-Jahrgänge hätten zum Beispiel bessere Chancen bei der Vergabe gefragter Studiengängen, als jene aus früheren Jahrgängen, die sich jetzt ebenfalls bewerben.
Ist das Gerechtigkeitsproblem nicht ein anderes: Mehr denn je entscheidet das häusliche Umfeld darüber, wie gut man lernen kann. Nämlich, ob es Wlan gibt, Computer und Eltern, die zur Seite stehen?
Das kommt dazu. Aber soll man deshalb grundsätzlich auf Noten und Prüfungen verzichten, weil wir keine totale Gerechtigkeit herstellen können.
Ja.
Die Alternative wären dann Hochschuleingangsprüfungen. Die benachteiligen gerade Kinder aus benachteiligten Familien noch stärker. Aber klar, es gibt ein Gerechtigkeitsproblem. Die Schere geht gerade noch stärker auseinander.
Woran merken Sie das?
An meiner Schule arbeiten die Lehrkräfte fast durchgehend mit Videokonferenzen. Pro Klasse sind immer zwei, drei Schüler nicht dabei. Wir versuchen dann, per Email und Telefon Kontakt zu ihnen aufzunehmen. Aber wir als Gymnasium haben da ein Luxusproblem. Die Förderschule bei mir um die Ecke hat das Grundproblem, die Schüler überhaupt zu erreichen. Es tut mir in der Seele weh, dass der Sprachförderunterricht, der auf intensivem Kontakt zwischen Lehrkraft und Schüler beruht, gerade völlig flachliegt. Das sind drei Wochen schon schlimm, wenn es noch länger dauert, wird es noch schlimmer. Da müssen wir uns tatsächlich fragen, wie kriegen wir es gebacken.
Was schlagen Sie vor?
Da habe ich jetzt auch keine Musterlösung. Es gibt Pläne, diese Schüler vielleicht doch in kleinen Gruppen in die Schule zu holen oder für sie die Ferien zu verkürzen.
Sie haben eine graduelle Öffnung der Schulen nach Ostern vorgeschlagen. Gerade auch für benachteiligte SchülerInnen?
Da spräche einiges dafür. Ich war einer von denen, die dafür plädiert haben, die Notfallbetreuung großzügiger zu fassen. Ich fürchte aber, diese Benachteiligung wird uns auch nach Öffnung der Schulen noch lange beschäftigen. Wir dürfen das nicht aus den Augen verlieren.
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