Training für den Utopiemuskel
Die Forschung zeigt: Schlechte Nachrichten und düstere Zukunftsaussichten machen uns passiv und handlungsunfähig. Wenn wir die Welt besser machen wollen, ist das ein Problem. Die taz hat deshalb mit dem Utopie-Experten Simon Mohn ein Training für utopisches Denken entwickelt. Also: Auf die Plätze, fertig, los!
Simon Mohn ist Gesellschaftsentwickler und Trainer für Utopiearbeit bei Reinventing Society. In dem 2020 gegründeten Thinktank arbeiten Sozialwissenschaftler:innen, Psycholog:innen, Nachhaltigkeitsforscher:innen und Menschen aus anderen Disziplinen daran, positive Zukunftsvisionen zu entwickeln und erlebbar zu machen.
Von Dunja Batarilo
(Text) und Kamala Fangmeier (Illustrationen)
Aufwärmen
Dies ist eine Version der „Wunderfrage“ aus der Systemischen Beratung. Sie kann dabei helfen, ohne Schere im Kopf ein Wunschbild entstehen zu lassen und mit Szenarien zu spielen. Denn unvoreingenommen den Raum der unendlichen Möglichkeiten zu betreten, ist oft gar nicht so leicht.
Stell dir vor, du wärst über Nacht Bundeskanzler*in. Bundestag und Bundesrat stehen hinter dir und du kannst eine Idee umsetzen, die auch garantiert Realität wird. Welche wäre das? Kostenloser ÖPNV für alle? Sofortiger Kohleausstieg? Bedingungsloses Grundeinkommen? Oder etwas ganz anderes?
Hürdenlauf
Vermutlich hat sich bereits ein „Ja, aber“ in deinen Kopf geschlichen. Dann bist du gerade deinem inneren Skeptiker begegnet, der seine Sätze meistens so beginnt. Ein nerviger Typ, aber sei freundlich zu ihm. Lass dich auf einen inneren Dialog ein, hör zu, was er zu sagen hat und bitte ihn dann, es sich woanders gemütlich zu machen. Er darf später wieder reinschauen und seine Meinung sagen.
Der innere Skeptiker ist eine wichtige Instanz. Er schützt uns davor, Zeit zu verplempern, naiv Projekte zu beginnen oder Utopien zu entwickeln, die später mehr schaden als nutzen. An dieser Stelle ist er aber gerade nicht hilfreich. Ihm jetzt einmal kurz zuzuhören und ihn ernstzunehmen, ist trotzdem wichtig, damit er danach Ruhe gibt und wir kreativ werden können. Er wird später wieder eingeladen, wenn es darum geht, unsere Utopien zu überprüfen.
Teamsport
Jetzt wird es gesellig. Hol dir ein bis drei Personen dazu und macht gemeinsam die „Ja-und-Übung“. Dazu stellt ihr euch eine Ausgangsfrage.
Zum Aufwärmen: Überlegt, was die utopischen Möglichkeiten für einen Ort in eurer Nachbarschaft sind. Zum Beispiel: Was ist das höchste Potenzial des hässlichen Supermarkts an der Ecke? Person A fängt an: „Auf dem Dach gibt es eine Grünfläche.“ Person B macht weiter und baut darauf auf: „Ja! Und da ist ein Spielplatz oben drauf!“ Und Person C führt den Gedanken weiter: „Ja! Und da sind Bäume, die Schatten geben, und ein Planschbecken.“ Kritik hat hier keinen Platz, entwickelt gemeinsam eure Lieblingsvorstellung, bis es sich komplett und gut anfühlt.
Im Brainstorming mit anderen kommen wir meist auf mehr und andere Ideen als allein. „Ja-und“ hilft dabei, in Möglichkeiten zu denken. Wir trainieren, auf den Gedanken anderer aufzubauen, statt sie abzublocken.
Wenn ihr dann aufgewärmt seid, könnt ihr ein Thema nehmen, das euch richtig wichtig ist und gesellschaftliche Relevanz hat. Zum Beispiel: Was ist das höchste Potenzial der Deutschen Bahn? Einer Partnerschaft? Des Gesundheitssystems?
Krafttraining
Stell dir vor, wie du in einen Heißluftballon steigst und damit nach oben fliegst. Für eine Weile schwebst du hoch über den Wolken, dann senkt sich der Ballon wieder. Du steigst aus, stehst vor deinem Haus und stellst fest: Es ist 2045, und deine persönliche Wunsch-Zukunft ist Wirklichkeit geworden. Woran erkennst du das? Wie sieht dein Haus aus, wie deine Straße? Gibt es sie noch? Schau dich um. Was hörst du, was riechst du? Wie bewegen sich die Menschen, was siehst du, wenn du an die nächste Straßenecke gehst, wenn du auf das Dach deines Hauses steigst?
Damit eine Vorstellung von der Zukunft so stark wird, dass sie uns zum Handeln motiviert, brauchen wir mehr als eine intellektuelle Auseinandersetzung. Je mehr Sinne beteiligt sind, desto besser. Diese Übung hilft auch, Wünsche aus dem Unterbewusstsein hochzuholen, die wir vielleicht im Alltag nicht parat haben.
Wenn du die Augen wieder öffnest, schreibe oder male hier auf, was du gesehen hast.
Ausdauer-Übung
Was sind die drei wichtigsten Werte in deinem Leben? Beispiele sind etwa Gerechtigkeit, Authentizität oder Toleranz. Notiere sie und formuliere dann für jeden dieser Werte einen Leitsatz, nach dem du handeln möchtest. Ist dir Gerechtigkeit wichtig, könnte er lauten: Ich achte darauf, fair mit anderen umzugehen.
Stell dir dann vor: Du steigst auf ein Schiff und landest auf einer Insel, wo deine drei Leitsätze wirklich gelebt werden. Wie sähe der Alltag auf dieser Insel aus? Wie arbeiten, essen, wohnen die Menschen? Wie ist Bildung organisiert? Wie gehen sie miteinander um, was für Feste feiern sie? Wie leben sie langfristig zusammen?