Portugal gewinnt Eurovision Song Contest: Natürlichkeit und wenig Inszenierung
Er war alles andere als ein Favorit des Wettbewerbs: Salvador Sobral gewinnt dennoch. Und das, obwohl er auf den großen Aufwand verzichtete.
„Amar pelos dois“ heißt das Lied, das seine Schwester Luisa komponiert und getextet hat. Vorgetragen eben von einem Mann, dessen Frisur keine ist. Mit Klamotten, die nicht zu passen scheinen. Ein Mann, der rund um das Mikrofon eher vage schaukelnd und mit weit aufgerissenen Augen sich zeigt als mit choreografierten Schrittfolgen. Ein Lied so sacht, wie es beim Eurovision Song Contest noch nie gewonnen hat, schon gar nicht in den vergangenen 20 Jahren, als alle Acts irgendwie wie Feuerwerke inszeniert wurden – meist aufdringlich und um Beifall bettelnd.
Am Ende hatte Sobral, der Portugiese, doch gewonnen. So klassisch nach dem David-gegen-Goliath-Muster. Einer, der sich selbst auch nicht als Held der Portugiesen sieht, weil ein Held, so sagte er, eben einer wie Cristiano Ronaldo sei. Aber er? Eher nicht. Dabei hat er sein Land kurz nach Mitternacht Lissaboner Zeit in einen Freudentaumel versetzt. Portugal nimmt schließlich seit 1964 am ESC teil. Und das Beste, was man bis zu diesem Wochenende erreichte, war ein sechster Rang – und der liegt auch schon 21 Jahre zurück.
Der Sieg für „Amar pelos dois“ war von jedem Zweifel frei. Von fast allen Ländern erhielt der Song Punkte. Auch aus Ländern, die portugiesischen ESC-Liedern entweder nie nur auch einen oder selten mehr als fünf Punkte gaben. Dieses Jahr regnete es die Höchstwertung von zwölf Punkten auf Salvador Sobral nur so herab: An ihn reichte nicht einmal der für Bulgarien performende Russe Kristian Kostov heran. Er wurde Zweiter mit „Beautiful Mess“. Den dritten Platz schafften die Moldawier „Sun Stroke Project“ mit „Hey Mamma!“, Vierte wurde die Belgierin Blanche mit „City-Lights“.
Orientierungslos wirkender Gewinner
Der Italiener Francesco Gabbani, haushoher Favorit bis zuletzt, fand sich am Ende für ihn „sehr enttäuschend, aber es ist nur ein Spiel“ auf dem sechsten Rang wieder.
Empfohlener externer Inhalt
Kurioserweise sah man während der Punktevergabe Salvador Sobral von der Kamera eingeblendet – und stets wirkte er irgendwie orientierungslos. Später sagte er: „Ich verstand die Wertungen nicht, aber jemand aus unserem Team erzählte uns plötzlich, wir hätten gewonnen.“ Seine Zukunft jedenfalls werde er nicht umstürzen. „Im Sommer habe ich eine Tour in Portugal, ich werde mein Leben einfach fortsetzen, wie es war. Ich mag mein ruhiges, geregeltes Leben. Hier ist es jetzt Spaß, aber dass ich heute gewonnen habe, weiß morgen schon keiner mehr.“
Noch auf der Bühne des Kiewer Messezentrums, in dem vor 7000 Zuschauern der ESC ausgetragen wurde, formulierte der Portugiese die für ihn wichtigste Botschaft dieses Abends: „Es geht bei Musik nicht um Feuerwerk, sondern um Gefühl.“ Seine Schwester Luisa gab unumwunden zu, die Geschichte eines Liebeskummers selbst erlebt und mit diesem Lied für ihren Bruder künstlerisch verarbeitet zu haben: „Als ich es fertig hatte, hoffte ich, dass es vom portugiesischen Fernsehen als mögliches Lied für Kiew angenommen wird – es war meinem Bruder zugedacht. Es ist schön, dass alles gut lief.“
Rüge für Statement-T-Shirt
Noch am Mittwoch war Sobral gerügt worden, weil er, so hieß es seitens der veranstaltenden European Broadcasting Union, ein politisches Statement gegeben habe: Er trug auf der Pressekonferenz ein T-Shirt mit der Aufschrift „S.O.S. Refugees“. Der Gescholtene erwiderte lapidar: „Es war nicht politisch gemeint, es war nur humanistisch gesinnt. Menschen, die zu uns flüchten, weil sie um ihr Leben fürchten, sind nicht politisch – was wir als Erstes tun können, ist, ihnen Schutz zu geben.“
In der Tat hat ein Lied diesen ESC gewonnen, das in den meisten Ländern nicht einmal zu einer Vorentscheidung zugelassen worden wäre. „Ich hoffe, mein Sieg bei der Eurovision ändert nicht nur diesen, sondern Popmusik überhaupt. Wir können doch meist nur das hören, was uns die Radiostationen vorsetzen. Das kann anders werden.“ Und: „Das Motto der Eurovision in Kiew lautet doch ‚Celebrate Diversity‘. Ich denke, der Contest handelt von Musik – das ist alles, was ich zeigen wollte.“
Und nicht, so ließe sich Sobral interpretieren, dass es immer angloamerikanische Chartware sein muss. „Amar pelos dois“ ist erst das zweite ESC-Gewinnerlied in 22 Jahren, das ausschließlich in der Landessprache der oder des Künstlers*in dargeboten wurde.
Die deutsche Kandidatin Levina, in einer Vorentscheidung der ARD im Februar durch das Publikum ausgewählt, belegte mit „Perfect Life“ den 25. und vorletzten Platz. Das ist, gemessen an den vergangenen zwei letzten Rängen deutscher ESC-Acts (Ann Sophie und Jamie-Lee), klänge dies auch nicht auch boshaft, eine zumindest leichte Verbesserung. Die gebürtige Sächsin, die in London studiert hat, ausgebildete Musikerin ist und prima singen kann, konnte mit ihrem Lied nicht einnehmen. Bis auf drei Punkte durch alle ESC-Jurys und ebenfalls drei durch das eurovisionäre Televoting war das alles. Ihr Beitrag war, wie so viele andere des Abends, nicht im Zeitgeschmack: stylish und bühnenperfekt. Europa bevorzugte eben am stärksten die Anmutung von Natürlichkeit und abgerüsteter Inszenierungsweisen.
Kiew als Gastgeberin konnte nichts für das extrem nieselige Wetter und die kühlen Temperaturen auch am Samstag. Public Viewing etwa rund um den Maidan wollte so gut wie niemand. Was aber auffiel während der Moderation der Show: Kein einziges Moment, dass die Ukraine für sich selbst werben sah – als Teil Europas. Es scheint nach diesen ESC-Tagen, als habe man dieses Eurovisionsfestival gewollt und wusste eher wenig damit anzufangen als Schaufenster in die Welt. Im Mai 2018 geht es weiter mit dem 63. ESC seit 1956 – in Lissabon, wo sonst?
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