Portrait: Wundertüte von der Ostsee
Man tut Kersti Kaljulaid nicht Unrecht, wenn man konstatiert, sie sei sechste Wahl gewesen. Seit August ist in Estland fünfmal versucht worden, ein neues Staatsoberhaupt zu wählen. Doch weder das Parlament noch das ersatzweise einberufene Elektorengremium „Valimiskogu“ konnten sich mit den notwendigen Mehrheiten auf eine der fünf KandidatInnen einigen. Woraufhin bereits Wetten abgeschlossen wurden, ob der Baltenstaat oder Österreich den Rekord bis zu einer geglückten Präsidentenwahl erringen würde.
Damit im sechsten Anlauf mit der aus Brüssel geholten neuen Kandidatin – Kaljulaid war in den letzten 12 Jahren Estlands Vertreterin im Europäischen Rechnungshof – nichts mehr schief gehen konnte, stimmte das Parlament am Montag erst über sie ab, als es keinen Gegenkandidaten mehr gab und auch keiner mehr aufgestellt werden konnte. Mit 81 der 101 Abgeordnetenstimmen wurde die 46-jährige nicht nur jüngstes estnisches Staatsoberhaupt seit Verabschiedung der Verfassung von 1992, sondern auch die erste Frau in diesem Amt.
Der kleine Haken: Ihre überraschende Nominierung war das Ergebnis einer undurchsichtigen Mauschelei im parlamentarischen Ältestenrat. Mehrere Abgeordnete beklagten, so seien zuletzt zu Sowjetzeiten Ämter besetzt worden – mit einem demokratischen Prozess habe das aber wirklich nichts zu tun.
Mit größerer politischer Erfahrung kann die parteilose Technokratin, die zwischen 1999 und 2002 wirtschaftspolitische Beraterin von Ministerpräsident Mart Laar gewesen war, nicht aufwarten. Vor und nach dieser Zeit war die Mutter von vier Kindern, diplomierte Biologin und Absolventin eines Business Administration-Studiengangs als Managerin im Telekom-, Bank- und Energiesektor tätig.
Für ihr Präsidentenamt habe sie kein Programm, gestand Kaljulaid in einem ihrer wenigen Statements vor der Wahl ein: „Aber ich habe Ansichten.“ Welche genau, blieb eher unklar. Jedenfalls werde sie sich bemühen, zur Lösung der Probleme beizutragen, die in ihrer Amtszeit auftauchen würden. Estland oberste Repräsentantin für die kommenden 5 Jahre ist also so etwas wie eine Überraschungstüte. Reinhard Wolff
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