Portrait: Die in die Kälte kam
Eigentlich wollte Rosaline Mbayo studieren, als sie vor 21 Jahren nach Berlin kam. Und frei sein. Aber es dauerte Jahre, bis sie so etwas wie Freiheit spürte. Heute berät die Frau aus Sierra Leone Menschen aus Afrika, die mit HIV oder Aids in Berlin leben.
Wenn Rosaline Mbayo Deutsch spricht, klingt es weich und fließend. Mit diesem Duktus trägt sie die drei Sprachen, in denen sie groß geworden ist, nach Berlin. Da ist das Kono ihres Vaters, das Mende ihrer Mutter und Krio, die Landessprache von Sierra Leone. Ihre Sprachmelodie ist ein afrikanisches Geschenk an die Deutschen. Ob sie das Deutsche auch liebt, bleibt offen. "Es ist mir keine Heimat", sagt sie. Ein Zuhause schon, eines, in dem sie die Adjektive, die Substantive und die Verben da unterbringt, wo auch Deutsche sie zumeist hinstellen würden. Aber nicht Heimat. Eine eigenwillige Synthese ist das.
Über 100 Organisationen und Unterstützer haben für Sonntag zum Aktionstag gegen Rassismus, Neonazismus und Krieg aufgerufen. Konzerte, Ausstellungen, Diskussionen und Spiele auf dem Marx-Engels-Forum kreisen um die Themen Fremdenhass und Zuwanderung. Der Termin fällt auf den traditionell am zweiten Sonntag im September begangenen "Tag der Opfer des Faschismus", der 1945 in Berlin ins Leben gerufen wurde. Am Vormittag führt ein "antifaschistischer Fahrradkorso" von der Gedenkstätte Plötzensee, vorbei an Orten nationalsozialistischen Terrors zum Aktionsort. Dort diskutieren Experten und Menschenrechtler, darunter der Exchef von Cap Anamur, Elias Bierdel, über NPD-Verbot, afrikanische Einwanderer und Antisemitismus in der DDR. Ausstellungen informieren unter anderem über das NS-Zwangslager für Sinti und Roma in Marzahn und Antikriegsplakate an Hausfassaden. Die Multikultiband La Mula stimmt zur Begleitung fremdenfreundliche Töne an, während Interessierte beim Graffiti-Jam ihren Unwillen gegen rechts versprühen können.
Auch anderes hat zwei Seiten, die sich zusammenfügen, obwohl sie zusammen keine Bedeutung haben. Da sind die schwarzen krausen Haare der 44-jährigen Frau. Sie sind am Kopf in ein geometrisches Linienmuster geflochten. "Cornrows" heißt die Frisur. Wie ein nächtliches Weizenfeld sieht es aus. Gleichzeitig flicht Mbayo, während sie erzählt, mit ihren matt schimmernden Händen unruhig die Fransen am weißen Schal, löst sie wieder auf und flicht sie von neuem.
Mbayo sitzt im winzigen Büro des Projekts Afrikaherz in Friedrichshain. Es ist die einzige Organisation in Berlin, die Aidspatienten und HIV-positive Menschen aus Afrika unterstützt. Zwischen den uralten Computern und den Second-Hand-Möbeln stapelt sich, was viele Afrikaner und Afrikanerinnen in der Hauptstadt als Last mit sich herumschleppen. Die Bürden der Menschen füllen den Raum, dessen Fenster auf einen tristen Hinterhof gehen: Die Leute, die hier Hilfe suchen, sind eingeklemmt zwischen Asyl- und ausländerrechtlichen Bestimmungen. Sie sind mit dem Virus infiziert. Die meisten haben nicht das Geld, um sich vernünftig zu ernähren, wie es die Krankheit erforderte. Viele haben keinen gültigen Aufenthaltsstatus. Manche sind schwanger, mitunter ist jemand ohne Krankenversicherung oder illegal. Arbeit haben die wenigsten, obwohl sie eine nachweisen sollen, um in Deutschland bleiben zu dürfen. Dazu kommt der verhohlene oder ganz unverhohlene Rassismus, der Farbige trifft. Es ist zu viel. Rosaline Mbayo muss das Fenster öffnen, um atmen zu können. Wie soll sie die Leute unterstützen? Seit 1999 arbeitet sie im Projekt. Sie hat die einzige bezahlte Stelle inne. Vier ehrenamtliche Mitarbeiterinnen gibt es noch und Praktikanten.
Mbayo hat in den 20 Jahren, die sie in Berlin lebt, viel erlebt. Da sind die Geschichten der anderen. Und da ist ihre eigene. Dass es sie damals zum Studieren hierher verschlug, war zufällig. Sie hätte sich lieber an einer Universität eingeschrieben, wo Englisch gesprochen wird. Sierra Leone war von Engländern kolonialisiert worden. Aber in Großbritannien hätte sie fürs Studium bezahlen müssen. Dabei hatten ihre Eltern doch schon das Haus verkauft, um ihr und ihren fünf Geschwistern die Ausbildung zu ermöglichen. Dann also Berlin. Eine Freundin, Tochter eines Diplomaten, der hier arbeitete, gab den Ausschlag. "Am Flughafen war ich zum ersten Mal frei", sagt sie.
Es war eine Freiheit, die sie mit ihrer ganzen Kälte und Brutalität im Nacken packte. Sie kam im Februar nach West-Berlin - damals noch mit der Mauer. "Ein Schock" sagt sie. "Überall nur Weiße." Sie glaubte, alle starrten sie an. "Heute habe ich das Gefühl nicht mehr so." Dazu der Berliner Winter. "In Freetown waren es 38 Grad, in Berlin minus 10." Sie saß in einer Wohnung mit Ofenheizung. Allein. Die Einsamkeit von außen fraß sich in sie hinein. "Meine Mutter hat mich sehr streng erzogen - ich wollte frei sein." Aber auf die Kälte, die ihr auf der Straße und in der Sprache entgegenschlug, war sie nicht vorbereitet. Dass Gefängnisse weiter sein konnten, als das Haus der Mutter, damit hatte sie nicht gerechnet. Tagelang umarmte sie den Kachelofen. Dabei liefen ihr die Tränen. Die waren warm. Außerdem war sie schwanger.
Der Frühling drei Monate später und der kurze Sommer taugten nur für ein schnelles Aufatmen. Hinzu kam, dass sie sich mit ihrer Freundin überwarf und diese sie bei ihrer Mutter verpetzte: "Übrigens, Rosaline kriegt ein Kind."
Das Visum, mit dem sie eingereist war, erlaubte Mbayo, den Sprachkurs zur Vorbereitung aufs Studium zu machen. Die Geburt ihrer Tochter im Oktober 1986 kam dazwischen. Sie schaffte die Prüfung nicht. Aber nach Sierra Leone zurückgehen, das konnte sie auch nicht. Ihre Familie hatte doch etwas für sie gewollt, was sie außerhalb Afrikas finden und zurückbringen sollte: Bildung. Das war ein Auftrag. Unmöglich konnte die Tochter mit einem unehelichen Kind zurück in ihr Land kommen. Auf der Ausländerbehörde verstand man das nicht. "Von da an lebte ich illegal in Berlin."
Mbayo ist, wie 90 Prozent der Mädchen in Sierra Leone, beschnitten worden. Ein schrecklicher Schmerz. Einer, für den Mbayo keine Worte hat. "Nach mir hört die Beschneidung auf, das hab ich immer zu meiner Mutter gesagt", sagt sie hart und betont ihre Entschlossenheit, indem sie mit der Hand durch die Luft schneidet. Als Älteste hatte sie noch nicht einmal ihre zwei jüngeren Schwestern schützen können. "Das ging an einem Tag. Zack, zack, zack." Sie trommelt auf den Schreibtisch. "Manchmal 200 Mädchen mit einem Messer. Die Schwester einer Freundin ist daran gestorben." Abrupt hört sie auf, auf den Tisch zu schlagen. "Aber der Schmerz war nichts gegen den Schmerz, den ich spürte, als ich in Deutschland illegal war."
Heimlich lebte sie mit ihrem Baby im Studentenheim. Das Kind durfte nachts nicht schreien. Mitstudentinnen gaben ihr Essen, spendierten Windeln. Manchmal flocht sie für andere auch Haare und bekam dafür ein paar Mark. Von dem Geld kaufte sie Milch bei Aldi, weil sie selbst nicht genug hatte, um ihre Tochter zu stillen. Später besorgte ihr ein Freund eine Parterrewohnung mit Elektroheizung und bezahlte die Miete. Es war Mbayos zweiter Winter in Berlin. Weil sie kein Geld hatte, wurde der Strom abgestellt. Daraufhin wurde das Kind krank.
Manchmal stand sie in dieser Zeit im U-Bahnhof und spürte den Luftstoß der einfahrenden Züge wie ein Versprechen. Einmal ging sie bei Rot auf die Straße. Jemand zog sie zurück. Und einmal wurde sie von der Polizei kontrolliert und, da illegal, in eine Zelle gesperrt. "Ich saß in einer Zelle", wiederholt sie. Eine symbolischere Verneinung von Freiheit gibt es nicht. Sie war mit ihrem Kind und einer Freundin unterwegs gewesen. Die Freundin musste das Kind mitnehmen. Von da an war sie registriert und konnte jederzeit abgeschoben werden.
Zu der Zeit lernte sie Christopher Renzing kennen, einen weltoffenen Mann, der heute in Arizona lebt. Sie will, dass sein Name genannt wird. So zeigt sie ihre Achtung für ihn. "Er war der erste Deutsche, der in mir einen Menschen sah", sagt sie. Sie heirateten, damit Mbayo nicht länger in der Illegalität leben muss. Er hatte es ihr angeboten und sie willigte ein. "Obwohl ich viel zu jung war für die Ehe."
In den folgenden Jahren bringt sie sich selbst Deutsch bei, beginnt, Geografie an der Technischen Universität zu studieren, muss das Studium abbrechen, weil sie keine Kinderbetreuung hat für die Kleine. 1993 bekommt sie ihr zweites Kind und trennt sich ein Jahr später von ihrem Mann. "Man rennt weg von einem Gefängnis und landet in einem anderen."
Nach der Trennung macht sie eine Ausbildung zur Krankenschwester. Was sie dabei an Ausgrenzung erlebte, will sie nicht vergessen. Da war eine alte Frau, die brüllte: "Hilfe, Hilfe, holt die Polizei!", als sie ins Zimmer kam. Da waren Kolleginnen, die ihr sagten, sie solle Deo benutzen, die ganze Station rieche nach ihrem Schweiß. Da war eine Patientin, in deren Zimmer sollte sie nicht gehen, weil diese einmal schlechte Erfahrungen mit Schwarzen in Südafrika gemacht habe. Und dann sind da noch all die Tische, an denen sie nicht sitzen darf, weil angeblich sämtliche Plätze besetzt sind. "Ich kann nicht als Krankenschwester arbeiten wegen dieser Erfahrungen."
Trotzdem macht sie einen neuen Versuch, sich in ein Korsett zu zwängen: Sie heiratet den Vater ihrer ersten Tochter. "Ich dachte, ich wäre frei genug gewesen, dafür." Sie bekommt einen Sohn, trennt sich später auch von diesem Mann und beginnt die Arbeit bei Afrikaherz. Jetzt sind es die Erfahrungen der Menschen, die bei ihr im Büro sitzen, in denen sie ihre eigenen spiegeln.
Die Jahre in Berlin haben Mbayo nachsichtig gemacht. Aber auch hart. Manches ist ihr ans Herz gewachsen. Ein wenig sogar der deutsche Winter. Nicht aber die Kälte, die Grenzen zieht zwischen Drinnen und Draußen. Als sie am vergangenen Wochenende auf dem Aidskongress "HIV im Dialog 2007" im Roten Rathaus mit einer Praktikantin in einen Disput gerät, die meint, auch für Deutsche sei es schwer, eine Arbeit zu finden und man müsse die Afrikaner darin bestärken, sich selbst zu helfen, da reagiert Mbayo heftig. "Selbsthilfe - ja, gut. Aber Menschen, mit so vielen Problemen, die sind gefangen." Da bewege sich nichts mehr. Da herrsche pure Depression. Und als die beiden auf eine 18-Jährige zu sprechen kommen, der die Praktikantin vorhält, dass sie nicht bereit sei, Deutsch zu lernen, wird Mbayo laut. "Hör mir zu, wie kann man von jemandem, die es mit 18 hierher verschlägt, die Analphabetin ist, die erst einmal zwei Kinder in Deutschland bekommen muss, um überhaupt ein Recht auf Bleibe zu haben, mit Vorwürfen kommen, sie wäre nicht bereit, Deutsch zu lernen?" Zuletzt begegnen sich beide in Sprachlosigkeit. Da entschuldigt sich Mbayo bei der Praktikantin.
Später in der U-Bahn nach Reinickendorf, wo sie wohnt, erzählt sie noch, dass sie seit drei Jahren endlich studiere. Sozialpädagogik, an der Alice-Salomon-Fachhochschule in Hellersdorf. Wenn sie dorthin fährt, zieht sie keine afrikanische Kleidung an, obwohl sie deren Farben und Muster so liebt. Denn Bedrohungen - die gibt es. Einmal wollte jemand sie ins Gleisbett schubsen. Hilflos versuchte sie sich mit den Armen zu schützen. Da kam zufällig ein anderer Afrikaner auf den Bahnsteig und half ihr. "Und letzten Freitag - ach lassen wir das", bricht sie den Satz ab. "Wenn ich fertig studiert habe, dann kann ich gehen." Wohin? Rosaline Mbayo weiß es nicht. Hier will sie nicht bleiben. In Sierra Leone hält sie es auch nicht mehr aus. Sie weiß nur, dass sie gehen will. Irgendwohin, wo ihr die Sprache Heimat ist. Ihre Kinder, sagt sie, wollten mit.
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