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Populismus und DemokratieVon der Welt Prioritäten lernen

Gastkommentar von Tobias Oertel

Tempolimit und Gendersprache sind Luxusthemen. Die wirklich große Frage dreht sich um Freiheit, um Menschenrechte und die Wahrung der Demokratie.

Brüssel, am 20. Februar: Frauen zeigen ihre Solidarität mit den Menschen im Iran Foto: Johanna Geron/reuters

W ir brauchen mehr als weltfremden Schönwetterliberalismus. Die Demokratie ist in Gefahr. Populismus, Trump, Brexit, im Inneren wackelt es. In Italien regieren Faschisten. Frankreich entscheidet sich seit Jahren zwischen Demokraten und Rechtsradikalen. Aber auch von außen wird die Demokratie angegriffen. Die Russische Föderation greift den europäischen Frieden an, und Xi Jinping erklärt Menschenrechte zum Gegenmodell vom chinesischen Imperialismus.

Wir leben in gefährlichen Zeiten und die liberale Antwort bleibt aus. Während in Kiew die Häuser brennen und ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung geführt wird, diskutiert der deutsche Liberale über Tempolimits und gegenderte Sprache. Diese Debatte wirkt auf jeden, der sich mit internationaler Politik beschäftigt, wie Hohn.

Tobias Oertel

ist Autor, Aktivist und Gründer. Er berät Politik und Zivilgesellschaft bei den Themen Digitalisierung und partizipative Strategie-Entwicklung.

Er startete die Petition #CumEx: Ich will meine Steuern zurück und Digitalministerium Jetzt!.

Während in Teheran Frauen ihre Fäuste zum Himmel recken und ihr Leben und das ihrer Familien riskieren, um sich gegen ein brutales patriarchalisches Herrschaftssystem zu wehren, schreibt das liberale Feuilleton über die Freiheit des Einzelnen, unendlich viel Kapital steuerfrei zu vererben. In Hongkong werden Freiheitsdemonstrationen gewaltsam niedergeschlagen, und der deutsche Diskurs dreht sich um die Freiheit, sich auf Kosten von Minderheiten zu amüsieren oder unendlich viel totes Fleisch oder Kuhmilch zu konsumieren.

Liberalismus ist zu einem Projekt verwöhnter Großstädter verkommen, die von Berlin aus andere Großstädte beschimpfen, um digitale Algorithmen zu füttern, die Populismus belohnen und Debatten verhindern. Die wahren Freiheitskämpfe finden nicht bei uns statt, sondern in Städten wie Kiew, Hongkong, Teheran und Kabul. Die bewundernswertesten Demokratinnen und Demokraten leben nicht in Demokratien. Es sind Menschen, die ihr Leben und das ihrer Familien für die Idee der Freiheit riskieren.

Radikale Freiheit entsteht durch Hinwendung zur Welt, nicht durch Weltfremdheit. Wir brauchen Debatten über Freiheit und Demokratie, nicht von Schönwetterliberalen, sondern von Menschen, die etwas zu sagen haben.

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1 Kommentar

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  • Leider sind es oft die ungenau verwendeten Begriffe. “liberal“ im Wirtschaftsbereich bedeutet was völlig anderes als liberal im Gesellschaftsbereich. Meist torpediert das Erstere das Zweite durch die Verstärkung wirtschaftlicher Ungleichheit.