Polizeieinsatz an Silvester in Berlin: Das neue Normal
Politik und Polizei feiern den „Erfolg“ des Großeinsatzes an Silvester. Für das Eigenlob fehlen Belege, aber es dient der polizeilichen Aufrüstung.
Nord-Neukölln war Schwerpunkt dieses Einsatzes mit insgesamt 4.000 Polizeikräften aus fünf Bundesländern und von der Bundespolizei. Ein polizeilicher Ausnahmezustand, bislang in Berlin in dieser Dimension nur bekannt vom 1. Mai. Das Motto hier wie dort: Mit einer Übermacht der Polizei soll jede Eskalation im Keim erstickt werden.
Der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) hatte zuvor gesagt, „wenn’s denn notwendig ist“, werde es die „Nacht der Repression“. Man darf ihn korrigieren: Auch ohne dass die Polizei gegen einen gewalttätigen Mob vorgehen musste, war es eine solche Nacht. Die polizeiliche Besetzung mit eingeschränkter Bewegungs- und Meinungsfreiheit (angesichts des Verbots einer propalästinensischen Demonstration im Vorhinein), in einem vom Busverkehr abgeschnittenen Gebiet mit Kontrollen und Leibesvisitationen ist Repression.
Die Hardliner im Senat sowie viele Medien zeigten sich danach zufrieden. Die Berliner Zeitung wusste: Mit einem massiven Aufgebot „konnte Berlins Polizei in der Silvesternacht größere Gewaltexzesse verhindern“. Wegner bilanzierte: „Das Einsatzkonzept war ein Erfolg.“ Selbstverständlich – mit sich selbst – zufrieden war Innensenatorin Iris Spranger (SPD). Und die Gewerkschaft der Polizei teilte mit: „Nur ein Großaufgebot der Polizei konnte für Sicherheit sorgen.“
Ausnahmezustand bald normal?
Immerhin reagierte die kleine Polizist:innen-Interessenvertretung Biss e. V.: „Reine Spekulation, dass NUR ein Großaufgebot der Polizei für Sicherheit sorgen konnte.“ Dies sei zudem „ein gewerkschaftlicher Freifahrtschein“ dafür, Polizeikräfte auch künftig an Silvester „mit Dienstfrei- und Urlaubssperren“ zu belegen.
Zu befürchten ist: Der Ausnahmezustand ist das neue Normal. Kaum vorstellbar, dass Senat und Polizeiführung aus der vergleichsweise ruhigen Nacht den Schluss ziehen, im kommenden Jahr den Einsatz wieder auf ein weniger bedrückendes Maß herunterzufahren. Oder dass die völlig sinnfreien Böllerverbotszonen auf den Prüfstand kommen.
Zu einer ehrlichen Debatte würde gehören, Tatsachen zu akzeptieren, die nicht in das Bild passen: Dass sich Krawalllust und Frustration nicht in der Weserstraße oder der Karl-Marx-Straße entluden, ist kaum mit dem Polizeiaufmarsch zu erklären. Abseits der über 600 Meter abgeriegelten Sonnenallee waren die Straßen nicht hermetisch überwacht. Hier hätte Handlungsfreiheit für Krawall bestanden, wenn der denn gewollt gewesen wäre. Auch fand sich kein Mob, der sich mit der Polizei an der Verbotszone duellieren wollte.
Dass auch unmittelbar neben einer Böllerverbotszone eskaliert werden kann, zeigt derweil der Blick auf den Alex. Während Feuerwerk auf dem Platz verboten war, beschossen sich Jugendgruppen am nahen Neptunbrunnen mit Raketen.
Ursachenforschung bleibt auf der Strecke
Doch diese Widersprüche gehen unter im allgemeinen Schulterklopfen von Polizei und Senat. Auf der Strecke bleibt so eine ernsthafte Ursachenforschung, weshalb es dieses Mal nicht so geknallt hat wie vor einem Jahr. Der Kriminologe Tobias Singelnstein meint im Gespräch mit der taz, es sei schwer zu sagen, warum die Silvesternacht in Berlin glimpflich verlaufen ist: „Die massive Polizeipräsenz wird eine Rolle gespielt haben, die Aufklärungs- und Präventionsarbeit im vergangenen Jahr auch.“ Hinzu kämen aber noch weitere Faktoren: „Zum Beispiel war der vorangegangene Jahreswechsel 2022/23 der erste nach den Einschränkungen durch die Pandemie, der daher wohl besonders ausschweifend begangen wurde.“
Outreach, ein Träger für Jugend- und Jugendsozialarbeit, zog am Dienstag eine positive Bilanz: In der Silvesternacht seien 50 Mitarbeiter:innen aktiv gewesen, man habe an fünf Standorten in der Stadt Partys für Jugendliche veranstaltet. Mit diesen Angeboten sowie weiteren Gruppenaktivitäten habe Outreach zum Jahreswechsel insgesamt etwa 500 bis 600 Jugendliche erreicht.
Die Logik der Aufrüstung ist stärker
Politiker:innen könnten jetzt auch zu dem Schluss kommen, dass die Jugendsozialarbeit seit dem vorletzten Silvester Früchte getragen habe und daher weiter gestärkt werde. Doch die Logik der Aufrüstung ist stärker, wie eine nicht zurückzudrehende Spirale.
Beispiel 1. Mai: Seit über einem Jahrzehnt ist die Dynamik ausufernder Riots Geschichte, haben sich Verletzten- und Festnahmezahlen minimiert. Der damalige Innensenator Frank Henkel (CDU) hatte in seiner Bilanz 2016 konstatiert, das Niveau der Gewalt unterscheide sich „deutlich von dem, was wir früher gewohnt waren“. Mit 6.000 Polizist:innen hatte er mehr Beamte eingesetzt als bei früheren Krawalltagen. Doch anstatt dass die Erfahrungen sich in Abrüstung niederschlagen würden, ist das Gegenteil der Fall. 2023 waren es gar 7.000 Polizist:innen, die einen inzwischen vollständig befriedeten 1. Mai als eigene Stärkedemonstration missbrauchten.
Polizeiforscher Singelnstein bezweifelt, dass dieser Trend zu immer größeren Polizeiaufgeboten bald gestoppt wird: „Es ist eine generelle Entwicklung, dass die Polizei in der Bundesrepublik kontinuierlich gewachsen ist: Personal, Befugnisse und Aufgaben wurden stetig ausgeweitet“, sagte der Strafrechtler. Dahinter stehe ein umfassendes Streben nach Sicherheit: „Die Politik nimmt ein zunehmendes Sicherheitsbedürfnis in der Gesellschaft wahr und versucht dem durch mehr Polizeipräsenz und -befugnisse gerecht zu werden.“
Besonders deutlich zeige sich das in der undifferenzierten Debatte über Jugendkrawalle wie etwa in der Silvesternacht, kritisiert Singelnstein: „Das ganze Phänomen wird nur als Sicherheitsproblem dargestellt. Hinzu kommt oft noch eine ordentliche Portion Rassismus. Aus dem Fokus gerät so die Frage nach den sozialen Hintergründen der Krawalle.“
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