Politologin Pető über Ungarns Regierung: „Orbáns System ist kaputt“
Die Proteste gegen Ungarns Regierung seien durchaus ernstzunehmen, sagt Andrea Pető. Viele verstünden, dass dessen Mechanismen nur Fassade seien.
taz: Frau Petö, der Amnestieskandal um die Begnadigung eines Pädophilie-Mittäters 2021 hatte den Rücktritt der ungarischen Präsidentin Katalin Novák sowie der Justizministerin Judit Varga zur Folge. Dennoch gehen immer wieder Zehntausende Menschen in Budapest auf die Straße – das letzte Mal am vergangenen Sonntag. Können diese Proteste Regierungschef Viktor Orbán gefährlich werden?
Andrea Pető: In seiner Rede zur Lage der Nation vor einer Woche hat Orbán von einem bedauerlichen Fehler gesprochen. Die betroffenen Frauen hätten Verantwortung übernommen. Orbán will damit einen Schlussstrich ziehen.
ist Politikwissenschaftlerin an der Central European University (CEU). Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit sind Gender Studies. Die CEU wurde 1991 von dem US-Multimilliardär Georges Soros gegründet. Bis zu ihrem politisch erzwungenen Rückzug 2018 war sie in Budapest angesiedelt. Seit Juli 2019 ist sie in Wien akkreditiert.
Wird ihm das auch gelingen?
Orbán ist nur an seiner eigenen Wählerbasis interessiert. Momentan ist diese groß genug, um alle künftigen Wahlen locker zu gewinnen. Die Regierung musste aber erkennen, dass der Skandal auch in ihrer Wählerschaft zum Thema wurde. Das liegt vor allem daran, dass Orbán jahrelang so viel über den sogenannten Kinderschutz gesprochen hat.
Etwa in Form eines Verkaufsverbots an Minderjährige von all jenen Werken, in denen gleichgeschlechtliche Liebe thematisiert wird. Solche Darstellungen seien „pädophil“, lautete die Regierungspropaganda.
Auch Sexualerziehung in Schulen wurde verboten und tabuisiert. Diese Art des „Kinderschutzes“ kam tatsächlich bei seiner Wählerschaft gut an. Es sieht aus wie eine Familienpolitik, aber es ist keine. Werte sind der Regierung egal, ihr geht es nur um ihren Machterhalt. Aber der Zuspruch für vermeintlich konservative Politik reicht länger zurück.
Nach der Öffnung und Liberalisierung ab 1989 waren viele enttäuscht. Frauen wurden ausgenutzt, das Sozialsystem brach zusammen und das Lohngefälle wurde größer. Dann kam das konservative Angebot von Fidesz: Frauen sollten sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen und sich zu Hause um die Kinder kümmern. Angeboten wurden ihnen dafür soziales Prestige und finanzielle Beihilfen. Im Vergleich zu einem ausbeuterischen Teilzeitjob war das oft die bessere Alternative. Jetzt merken viele: Der Staat schützt seine Bürger nicht. Die Vereinbarung ist gebrochen.
Vor einer Woche haben wohl über 100.000 Menschen in Budapest protestiert. Es waren die größten Proteste gegen die Regierung seit Langem.
Dass der Amnestie-Fall solche Wellen schlägt, zeigt, wie wichtig die verbliebenen unabhängigen Medien weiterhin sind. Für die bisher größte Demonstration, die Sie ansprechen, hatten jedoch Youtuber und Influencer mobilisiert. Die klassische Zivilgesellschaft hingegen ist leer und fragil, es gibt kaum unabhängige, kritische Organisationen. Und ihre Arbeit wird ihnen zunehmend schwergemacht, etwa von dem neuen Gesetz gegen „ausländische Agenten“ nach russischem Vorbild. Damit können jene überwacht werden, die die Regierung nicht unterstützen. Vor allem aber geht es um Einschüchterung.
Ist nun dennoch etwas ins Rutschen gekommen?
Bemerkenswert ist, dass der Ex-Mann der zurückgetretenen Justizministerin, Péter Magyar, nun so offen bestätigt hat, dass es strukturelle Korruption gibt. Und dass die verschiedenen institutionellen Mechanismen nur eine Fassade sind, weil tatsächlich Orbán alles dirigiert. Der Fidesz-Deal lautete ja jahrelang: „Kümmert euch nicht um Politik, wir machen das für euch. Wir werden ein funktionierendes, reiches Land aufbauen.“ Nun stellt sich immer mehr heraus, dass die Regierung nicht geliefert hat. Das Land verarmt und funktioniert nicht mehr, von den Schulen bis hin zum Gesundheitssystem.
Manche Beobachter sprechen jetzt von einem frischen Wind für die Opposition. Im kommenden Juni finden nicht nur die Wahlen zum Europäischen Parlament, sondern auch ungarische Kommunalwahlen statt.
Fraglich ist, ob die lokalen Akteure durch die Verschwendung europäischer Mittel und Korruption noch widerstandsfähig sind. Leider sind die Menschen auf der Ebene der Gemeinden sehr, sehr müde. Und sie sehen, was mit denen passiert ist, die sich diesem Regime widersetzten – wie sie finanziell und moralisch hingerichtet wurden. Ich hoffe, dass aus Teilen der Fidesz, die gegen ein solches korruptes Regime ist, eine alternative Liste für das Europäische Parlament hervorgeht. Aber ich bin nicht sicher, ob die Politiker, die sich in diesem System jahrelang sehr wohl gefühlt haben, diese Initiative ergreifen würden.
Wird Orbán Kompromisse machen müssen?
Ja, aber kleine Kompromisse werden nicht mehr reichen. Das System ist kaputt und immer mehr Menschen merken es.
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