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Politologe über die tunesische Revolution"Neuwahlen alleine bringen nichts"

Politikwissenschaftler Hamadi El-Aouni fordert eine neue Verfassung. Es gebe zwar Oppositionelle, aber keine organisierte Opposition. Und die Elite versucht, das Chaos für sich zu nutzen.

"Das unorganisierte Volk, die Verfolgten, Ausgebeuteten und Unterdrückten, hat es geschafft, eines der schlimmsten Regime der Region zu besiegen." Bild: rtr
Deniz Yücel
Interview von Deniz Yücel

taz: Herr Aouni, haben Sie am Wochenende gefeiert?

Hamadi El-Aouni: Selbstverständlich, ich habe mit Freunden gefeiert. Denn das unorganisierte Volk, die Verfolgten, Ausgebeuteten und Unterdrückten, hat es in einem spontanen und unbewaffneten Aufstand geschafft, einen Polizeistaat, eines der schlimmsten Regime der Region zu besiegen.

Das war ein politischer Aufstand?

Hamadi El-Aouni

65, stammt aus dem zentraltunesischen Ksour-Essef und lebt seit 40 Jahren in Deutschland. Er ist Dozent für Politik und Wirtschaft an der Hochschule für Wirtschaft und Recht sowie der Freien Universität Berlin.

Natürlich. Denn die Tunesier haben nicht nur für Brot demonstriert, sondern auch für ihre Würde und ihre Freiheit. Aber der Wechsel zur Demokratie ist noch nicht vollzogen. Noch nicht.

Was macht Sie so zurückhaltend?

Die alte Garde, zu der auch der Premierminister und der Übergangspräsident zählen, ist weiterhin an der Macht. Und es hat sich eine Dynamik ergeben, die es ihr ermöglicht hat, die Lage unter Kontrolle zu bringen.

Worauf spielen Sie an?

Im ganzen Land sind bewaffnete, maskierte Cliquen unterwegs - das sind die Miliz der Staatspartei und die Präsidialgarde. Diese Leute sind für den Großteil der Plünderungen verantwortlich. Sie wurden auf das Volk losgelassen, mit dem Ergebnis, dass die Armee den Ausnahmezustand ausgerufen und eine Ausgangssperre verhängt hat. Deshalb dürfen die Tunesier nicht mehr demonstrieren. Aber ich glaube, dass die Menschen, die ihr Leben riskiert haben, es nicht zulassen werden, dass man sie betrügt.

In 60 Tagen soll es Neuwahlen geben - zu spät oder zu früh?

Neuwahlen allein bringen nichts. Und ein Mehrparteiensystem allein wäre keine Alternative zum bisherigen Regime. Denn auf Grundlage dieser präsidialen und absolutistischen Verfassung ist eine Demokratie nicht möglich.

Was müsste passieren?

Das Volk müsste weiter demonstrieren, bis sich eine Versammlung von Fachleuten zusammenfindet, die nur die Aufgabe hat, einen Entwurf für eine dezentralistische und parlamentarische Verfassung zu erarbeiten und zur Abstimmung zu stellen.

Wie ist es um die Opposition bestellt?

Es gibt eine Pseudoopposition von fünf oder sechs Parteien. Die sind immer noch da und machen alles mit, so wie sie früher auch alles mitgemacht haben. Und da gibt es die echte Opposition. Genauer: echte Oppositionelle.

Was ist der Unterschied?

Die alten oppositionellen Parteien und Bewegungen wurden zerschlagen. In organisierter Form gibt es keine Opposition. Aber es gibt Individuen, darunter viele Intellektuelle, die auf der ganzen Welt leben oder noch in den Gefängnissen sitzen. Diese Leute müssen sich in den Prozess um eine Verfassung einbringen.

Sehen Sie die Gefahr, dass die Islamisten siegreich aus dem Aufstand hervorgehen?

Die sind eine, aber sicher nicht die größte oder bedeutendste Strömung der Opposition. Die einzige Organisation, die diesen Volksaufstand unterstützt und mitorganisiert hat, war die offizielle Arbeitergewerkschaft oder genauer: deren linker Flügel.

Könnte der tunesische Aufstand auf die Nachbarländer überschwappen?

Auf jeden Fall. Auf Algerien ist der Funke ja schon übergesprungen. Und wenn es einen Staat in der Region gibt, der reif ist, dann ist es Ägypten.

Denken Sie selbst darüber nach, sich in Tunesien zu engagieren?

Ich würde meinen Rat zur Verfügung stellen. Aber ich will keine politischen Aufgaben übernehmen. Ich glaube, die, die jetzt aus dem Ausland zurückkehren oder daran denken, mit ihrem Kenntnissen und Erfahrungen als Berater hilfreich sein können. Aber mehr nicht. INTERVIEW: DENIZ YÜCEL

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6 Kommentare

 / 
  • DB
    Di Brik

    Tunesien und die Gerechtigkeit.

     

    Außer der Sonne schien endlich mal in Tunesiens Geschichte auch ein kleines Licht für die Gerechtigkeit.RCD-Partei mit ganzem Führern, Gewerkschaft, Minister, Gouverneure und Mitglieder haben heute wirklich die Hose gestrichen voll.Alle Herren und wenig Damen zittern Tag und Nacht,jeder versucht sein gigantisches Ei zu verbergen,zu verstecken oder zu verschieben.Wohin mit

    dem Ei?!!!!!!!!!!!!

     

    Nun sind fast alle Tore dicht.Eine riese Freude für das arme Volk.Überall das Thema Ei,mein Geld,meine Freiheit,Politik und Demokratie im Gespräch.Alles war Tabu genau so über Religion.Das Volk braucht Arbeit, Motivation, Selbstvertrauen, leben und eine Zukunft niemals Ministerium für Religion und tausende Moscheen.Schade um das Geld und die verlorene Zeit.

  • A
    Antifo

    Dieser "Politologe" macht sich bereits mit seiner Behauptung, daß der “spontante … Aufstand” des “unorganisierten Volkes” das Regime beseitigt habe, unglaubwürdig. Würde das allein ausreichen, dann wäre der revolutionäre Funke schon längst auf die anderen Länder der Region kam übergesprungen. Selbstverbrennungen als Nachahmungstat gab es zwar auch in Ägypten, in Algerien und Mauretanien, aber die dortigen Regierungen haben eben nicht den Fehler gemacht, mit scharfer Munition in die protestierende Menge zu schießen. Wäre das geschehen, dann hätten sich vielleicht auch dort die Rechtsanwälte mit den Unzufriedenen solidarisiert und dann zum Generalstreik aufgerufen.

     

    Auch bei den politischen Auseinandersetzung in Pakistan sind die Rechtsanwälte übrigens immer ein entscheidender Faktor. Die von den Marxisten immer so vergötterten Arbeiter und deren Gewerkschaften spielen in diesen Ländern dagegen kaum eine Rolle.

  • N
    ntj

    @WissenistMacht

     

    Interessanter Artikel, jedoch habe ich Schwierigkeiten zu verstehen, was genau sie jetzt an El-Aouni kritisieren? könnten sie hier etwas konkreter werden?

  • F
    Frank

    Es sind die oekonomischen Verhaeltnisse, die politisch hergestellte Armut an Produktionsmitteln auf der Seite der Bevoelkerung und auf der anderen Seite die Verfuegungsgewalt ueber diese Reproduktionsvoraussetzungen im Besitz der, deswegen, herrschenden Elite.

    Die Erfolge der vorausgegangenen Jahre dieser Bewirtschaftung des Volkes liegen auf Privatkonten.

    Die Rechtstitel auf Land, Fabriken und Wohnraum werden

    getrennt davon schriftlich hinterlegt.

     

    Daran soll sich nichts aendern. (Siehe auslaendische Sprachregelung und im Rahmen oeffentlicher Meinungsbildung: "Stabilitaet" ist wichtig!).

    Ausgetauscht werden die Gesichter, die Personen welche anschliessend, vielleicht auch demokratisch gewaehlt, das gleiche Spiel weiter betreiben.

     

    Mehr als Wahlen und ein Arbeitsplatz ist nicht drin?!

    Nur dann nicht, wenn die Menschen das mit sich machen lassen. Das Recht auf Wahlen bestaetigt und legitimiert die jetzigen Besitzverhaeltnisse

    und damit die Ursachen der Armut und die Quelle der staatlichen Gewaltmittel. Die Armut ist die Grundlage der lebenslangen oekonomischen Erpressbarkeit. Die "Beschaeftigung", Arbeit fuer einen Lohn, reproduziert und vermehrt die oekonomischen und politischen Gewaltmittel.

    Das Fehlen von Demokratie -muessen- sich die "Aufstaendischen" als ihre Forderung einleuchten lassen!

    Die Besprechung dieses Aufstandes als "Ruf nach Demokratie und Freiheit" ist keine Aeusserung von Verstaendnis sondern eher schon die Klarstellung wo die Grenzen der Toleranz liegen!

    Wenn die Bevoelkerung sich das nicht einleuchten laesst, wechselt -auch- das Ausland ganz schnell sie Sichtweise! Dann ist klar was da vorliegt, Talibanterror.

  • W
    WissenistMacht

    Wie wohl die meisten Exil-Tunesier hat auch Hamad el-Aouni eine höchst einseitige Sicht der Ereignisse. Ich lebe nunmehr seit 12 Jahren in Tunesien und bin mitten im Geschehen. Meine Einschätzungen habe ich gestern Abend veröffentlicht unter dem Titel "Quo Vadis, Tunisia?" auf www.quotenqueen.wordpress.com

     

    Vielleicht sollte sich auch die TAZ-Redaktion etwas breiter informieren als ausgerechnet bei den Emigranten.

  • K
    Karen

    Und nein, Tunesien ist immer noch nicht Naher Osten, sondern gehört in die Rubrik Afrika, wo übrigens auch die anderen Artikel zu Tunesien zu finden sind...