Politologe über Fehler linker Parteien: „Weit weg von ihrer Klientel“
Andreas Nölke hat in seinem Buch so etwas wie das Programm für Wagenknechts Sammlungsbewegung beschrieben: weniger Migration, mehr EU-Skepsis.
taz: Herr Nölke, haben Sie schon Prügel für Ihr Buch bekommen?
Andreas Nölke: Bisher weniger als erwartet. Es gab im Spiegel einen Artikel, wo ich „Deutschland zuerst“-Denker genannt wurde. Das ist natürlich Unsinn.
Wäre es richtig zu sagen, dass Sie so etwas wie das Programm für Sahra Wagenknechts Sammlungsbewegung geschrieben haben?
Ich habe mit Frau Wagenknecht noch nicht gesprochen, aber inhaltlich sind wir wahrscheinlich nah beieinander. Bezüglich der Organisationsform bin ich etwas skeptisch. Frau Wagenknecht hält La France insoumise von Jean-Luc Mélenchon hoch – aber da stören mich die wenig demokratischen Parteistrukturen und auch die Fixierung auf eine charismatische Person.
Fast zeitgleich ist in Ihrem Westend-Verlag ein Band mit dem Titel „Rechts gewinnt, weil Links versagt“ erschienen. So hätte man Ihr Buch auch nennen können.
In der Tat. Sämtliche linke Parteien machen einen großen Fehler, weil sie von einem großen Teil ihrer Klientel in der Flüchtlings- oder Europafrage weit weg sind. Das treibt diese Wähler der AfD in die Arme.
Worin unterscheidet sich Ihre Position zu Merkels Flüchtlingspolitik von der der AfD?
Die AfD lehnt Flüchtlinge vor allem ab, weil die meisten muslimischen Glaubens sind. Meine Skepsis kommt daher, weil eine hohe Zahl von Flüchtlingen Konkurrenz für die weniger Qualifizierten in der deutschen Bevölkerung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt bedeutet. Und natürlich müssen wir die Herkunftsregionen der Flüchtlinge viel stärker unterstützen. Auch da hat die AfD andere Vorstellungen.
ist Professor für Politikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt. Sein Buch "Linkspopulär. Vorwärts handeln statt rückwärts denken" (18 Euro) ist im Westend-Verlag erschienen. In der Linkspartei begann der Streit zwischen Fraktionschefin Wagenknecht und der Parteispitze um Katja Kipping und Bernd Riexinger 2017. Hauptthema: mehr oder weniger Migration.
Wie würde Ihre Asylpolitik aussehen?
Wir müssen die völkerrechtlichen Verpflichtungen ein- und das Grundrecht auf Asyl aufrechterhalten. Aber ich halte die Politik von 2015, großzügige Willkommenssignale für eine stärkere Migration zu senden, für falsch.
Wo sollen die syrischen Flüchtlinge denn hin?
Die Bundesrepublik müsste wesentlich großzügiger bei Unterbringung und Schutz von Flüchtlingen innerhalb ihrer Herkunftsregionen sein. Das dürfte sowohl dem Interesse vieler Flüchtlinge entsprechen als auch die Möglichkeit erhöhen, dass sie nach dem Ende der Konflikte wieder in ihr Heimatland zurückkehren.
Im vergangenen Jahr hat der libanesische Präsident erklärt, sein Land könne die vielen Flüchtlinge nicht mehr bewältigen. Im Libanon stellen Flüchtlinge ein Viertel der Bevölkerung. Weshalb soll der arme Libanon ertragen, was sich das reiche Deutschland besser leisten könnte?
Wenn das der Präsident des Libanon sagt, muss das respektiert werden. Dennoch ist fraglich, ob es sinnvoll ist, die Flüchtlinge vor allem nach Deutschland zu bringen.
Eines der Argumente von 2015 war: Die Flüchtlinge helfen, das demografische Problem Deutschlands zu lösen.
Sicher kann man aus volkswirtschaftlicher Sicht diskutieren, ob die Menschen, die kommen, von der Wirtschaft gebraucht werden. Aber das ist nicht mein Thema. Mir geht es um die Menschen in unserer Gesellschaft, die weniger privilegiert sind – bei Jobs, Bildung, Wohnungen, Sozialtransfers. Solange unsere Wirtschaft die vielen Menschen, die bei uns entweder in sehr schlechten Arbeitsverhältnissen oder arbeitslos sind, nicht in vernünftige Jobs bringt, sollte man nicht im größeren Stil Migranten anwerben.
Die Linkspartei-Führung um Katja Kipping und Bernd Riexinger will sowohl für Flüchtlinge als auch für die Beschäftigten im Niedriglohnsektor mehr einfordern. Finden Sie das illusionär?
Zunächst ist das eine sympathische Forderung. Viele der politischen Probleme hätten wir nicht gehabt, wenn man gleichzeitig mit der Ankunft einer größeren Anzahl von Flüchtlingen tief in die Tasche gegriffen hätte, um auch den weniger Privilegierten bei uns zu helfen. Das hat aber nicht stattgefunden – und daher würde ich sagen, dass das illusionär ist. Inzwischen haben große Teile der Bevölkerung den Eindruck, dass es in erster Linie um die Neuankömmlinge geht.
Horst Kahrs schreibt in seiner Wahlanalyse für die Rosa-Luxemburg-Stiftung: „Wer AfD wählte, konnte wissen, was er oder sie tat. Es führt nun kein Weg mehr vorbei an der Tatsache, dass es eine Minderheit in der Bevölkerung gibt, die einen grundlegenden politischen Kurswechsel in Richtung Nationalismus unterstützt.“ Warum sollten linke Parteien Wähler von der AfD zurückholen, wo es sich doch um offenkundig verantwortungslose Gestalten handelt?
Ich teile diese Einschätzung nicht. Man muss zwischen einem Großteil der Repräsentanten der AfD und ihren Wählern differenzieren. Der Großteil der AfD-Wähler identifiziert sich nicht mit rassistischen Sprüchen.
Das ist eine gewagte These …
… dazu gibt es demoskopische Studien. Es geht ihnen um einen Hilferuf, um darauf hinzuweisen, dass sich für die eigene Situation niemand interessiert. Wir sollten diese Menschen nicht in die Nazi-Ecke stellen, sondern ihnen politische Angebote machen – ebenso wie den 25 Prozent der Bevölkerung, die überhaupt nicht mehr wählen gehen.
Vor der Flüchtlingskrise hat die Linkspartei weitgehend das Programm gehabt, dass Sie sich jetzt wünschen. Trotzdem ist sie nicht über knapp zwölf Prozent hinausgekommen. Weshalb sollte sich das jetzt ändern?
Zum einen haben Themen rund um Migration erheblich an Bedeutung gewonnen. Parteien, die darauf nicht eingehen, verlieren tendenziell an Zustimmung, auch wenn sie sonst vielleicht attraktive Positionen haben. Auf der anderen Seite geht es bei der von mir skizzierten linkspopulären Position auch um andere Aspekte wirtschaftlicher Globalisierung. Etwa um eine skeptischere Position zur EU. Da hatte die Linkspartei zu dem von Ihnen genannten Zeitpunkt keine sehr klare Position. Sie war zwischen EU-Befürwortern und -Skeptikern zerstritten.
In Frankreich und in Italien, die unter der aktuellen EU-Politik gelitten haben, kann man mit einer EU-kritischen Haltung Stimmen holen. Aber in Deutschland ist die EU doch ein Spezialthema für linke Intellektuelle.
Sicherlich gibt es Spezialfragen der EU-Politik, etwa zum Euro, die uns mehr interessieren als vielleicht andere Bevölkerungsgruppen. Aber laut Umfragen hat selbst in Deutschland ein großer Teil der Menschen in den letzten Jahren eine skeptischere Haltung gegenüber der EU entwickelt. Sie haben auch Bedenken wegen der Verletzbarkeit der deutschen Wirtschaft aufgrund ihrer starken Exportorientierung.
Was entgegnen Sie dem Vorwurf: Sie befürworten selbst nationalistische Politik?
Das halte ich für ausgemachten Unfug. Mein Vorschlag ist solidarischer als die Ideen von vielen, die sich selbst als sehr europäisch sehen. Die derzeitige Ausrichtung der EU und des Euro ist ein großer Vorteil für die deutsche Exportwirtschaft. Ich würde das als nationalistisch-merkantilistisch bezeichnen. Mir geht es darum, dass auch die südeuropäischen Wirtschaften wieder mehr Luft zum Atmen bekommen.
Sie glauben, man könne soziale Politik auf der nationalen Ebene besser als auf der europäischen umsetzen. Aber auf der nationalen Ebene ist sowohl Franç ois Hollande mit seiner Reichensteuer als auch Syriza mit seiner Antiausteritätspolitik gescheitert. Warum soll man sich angesichts dessen nicht darauf konzentrieren, die EU sozialer zu machen?
Der Sozialstaat funktioniert derzeit auf der nationalen Ebene. Dort werden 95 Prozent der Sozialleistungen gezahlt. Ich sehe derzeit keine breitere politische Unterstützung für einen Sozialstaat auf europäischer Ebene. Natürlich ist es grundsätzlich immer wünschenswert, Europa sozialer zu machen, etwa eine Finanztransaktionssteuer auf europäischer Ebene einzuführen. Aber was ist, wenn sie auf europäischer Ebene nicht durchsetzbar ist – verzichten wir dann darauf oder führen sie auf nationaler Ebene ein?
Sie sind gegen Volksabstimmungen auf nationaler Ebene, weil der untere Teil der Bevölkerung daran nicht so stark teilnimmt. Einige Theoretiker aus der politischen Mitte sind nach Trump gegen Wahlen. Beides ist doch gefährlich für eine Demokratie: Alle zimmern sich das Wahlrecht so, dass herauskommt, was sie selbst gut finden.
Ja, da haben Sie recht. Ich mache genau das, was Sie mir vorwerfen. Mir geht es darum, die weniger privilegierte Bevölkerungshälfte zu unterstützen und stärker repräsentiert zu sehen. Diese Menschen beteiligen sich eher an der repräsentativen als an der direkten Demokratie. Solange das so ist, unterstütze ich eindeutig die repräsentative Demokratie.
Wie realistisch ist es, dass in Zukunft eine linke Partei in Deutschland in Ihrem Sinne agiert?
Das ist eine sehr spannende Frage. Seit der Bundestagswahl und der Entscheidung für die Große Koalition gibt es etwas Bewegung auf der linken Seite des Parteienspektrums – verschiedene Initiativen innerhalb der SPD, dazu die von Frau Wagenknecht. Ich hoffe, dass sich eine dieser Initiativen dafür entscheidet, eine Programmatik, wie ich sie skizziere, zu übernehmen. Ich habe im Augenblick bei der SPD etwas weniger Hoffnung, weil die Initiativen zu den Themen, über die wir hier diskutieren, keine klare Position haben. Eine wirkliche Dynamik sehe ich noch nicht.
Sie schreiben: Erst nach der nächsten Bundestagswahl, wenn die SPD oder die Linken ein weiteres schlechtes Ergebnis einfahren, könne die Zeit dafür reif sein.
Die Schwächung der linken Parteien ist noch nicht am Ende. Eigentlich müsste sich jetzt schon eine solche Initiative bilden, aber vielleicht ist die Bequemlichkeit noch stärker.
Die Hoffnung auf die Grünen haben Sie aufgegeben?
Ich war selbst über 30 Jahre Mitglied bei den Grünen …
… wann sind Sie warum ausgetreten?
Ich war von 1980 bis 2013 Mitglied. Die schwarz-grünen Koalitionen haben mich endgültig vergrault. Als ich das Buch 2017 geschrieben habe, waren die Grünen in der Mitte des Parteienspektrums positioniert, zwischen SPD und CDU, und wurden auf eine schwarz-grüne Kooperation ausgerichtet. Möglicherweise ändert sich das mit der neuen Parteiführung etwas.
Sie könnten wieder Mitglied werden.
Na ja, trotzdem werden die Grünen in der Europapolitik, in Wirtschafts- und Migrationsfragen weiter eine kosmopolitische Position haben – also eine, die den unteren Teil der Bevölkerung nicht vor der Globalisierung schützt. Aber ich fordere keine Partei, die alleine 50 Prozent holt, sondern gehe davon aus, dass wir wie in den Niederlanden in Zukunft drei oder vier linke Parteien haben werden. Wenn die Grünen dann noch zur linken Seite gehören, wären sie ein interessanter Partner.
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