: Politischer Tunnelblick
betr.: „Was Bush erwartet“, taz vom 30. 10. 02
Sie berichten, dass „Washingtons konservative Polit-Elite … derzeit tief beeindruckt“ sei von einem Aufsatz mit dem knappen Titel „Power and Weakness“ (Stärke und Schwäche) von Robert Kagan. Der Aufsatz stand in der angesehenen Zeitschrift Policy Review und fand – trotz einiger Vorbehalte – auch in kritischen US-Kreisen Aufmerksamkeit als „derzeit beste Analyse der Differenzen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten“.
Kagan beschreibt in seinem Aufsatz Vorstellungen von Teilen der US-amerikanischen Öffentlichkeit über die Position der Vereinigten Staaten einerseits und Europas andererseits. Er geht dabei so vor, dass er zunächst eine Reihe von Thesen aufstellt, die er anschließend durch verschiedene Argumente zu stützen versucht, um seine Auffassung zu bestätigen. Kagans Sichtweise entpuppt sich allerdings im Endeffekt als wenig komplex. Sie besteht im Grunde in einer einzigen: der alles entscheidenden Frage der Stärke. Der Grundton wird bestimmt durch Sätze wie: „Europa schickt sich an, in ein posthistorisches Paradies von Frieden und Wohlstand einzutreten“, während die Vereinigten Staaten sich in einer Welt finden, „ in der auf internationale Regeln und Gesetze kein Verlass ist, und in der echte Sicherheit … noch immer vom Besitz und Gebrauch militärischer Stärke abhängt.“ Kagan bedient eine Meinung in Teilen der US-amerikanischen Öffentlichkeit mit seiner grundlegenden These von der Akzeptanz und Akzeptabilität von Zwang, Gewalt, Macht und Stärke, gegen die er Kompromissbereitschaft, Vermeidungsstrategien, Appeasement und Hinterhältigkeit setzt. Kagan ist kein Analytiker und seine Verweise auf die Philosophen Hobbes und Kant sind nicht mit Tiefgang zu verwechseln. Er schreibt Propaganda, deren Aufgabe darin besteht, ein Bild zu entwerfen, das den gutmütigen Riesen einer Reihe von Schreckgespenstern gegenüberstellt, die er dann abfertigt.
Kagans vorrangige Beschäftigung mit dem Gegensatzpaar Stärke und Schwäche verstellt den Blick auf andere Beweggründe in politischer Theorie und Praxis, die es nicht nur in Europa, sondern auch in den USA und anderswo gibt. Sie bewirkt jene Art von Tunnelblick, die für eine fundamentalistische Sichtweise typisch ist.
WOLFGANG GERSTER, Braunfels
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen