Politische Krise in Tunesien: Der Alleinherrscher teilt aus
Präsident Saied drangsaliert die Opposition. Jetzt geht es den Ennahda-Islamisten an den Kragen. Ihr Vizechef tritt in der Haft in den Hungerstreik.
Die Pressestelle der größten politischen Partei Tunesiens nannte die „Entführung“ ihres Chefstrategen einen gefährlichen Präzedenzfall und weiteren Schritt weg von der Demokratie. Seit Monaten fordert Ennahda-Chef Rashid Ghannouchi von Präsident Kais Saied die Wiedereröffnung des im Sommer geschlossenen Parlaments und Neuwahlen.
Tunesiens Innenministerium veröffentlichte am Samstag lediglich eine Pressemitteilung, in der von Hausarrest von zwei nicht namentlich genannten Personen die Rede ist. Die „Präventivmaßnahme“ sei zum Schutz der „nationalen Sicherheit“ geschehen, hieß es weiter.
24 Stunden nach seiner Verhaftung wurde Bhiri in das regionale Krankenhaus der Stadt Bizerte eingeliefert. Vor dem Gebäude kam es zwischen Polizeibeamten und mehreren zur Verteidigung Bhiris eintreffenden Rechtsanwälten zu heftigen Wortwechseln. Zunächst ging das Gerücht um, dass Bhiri in lebensbedrohlichem Zustand sei, doch von der taz kontaktierte Mitarbeiter des Krankenhauses bestritten einen möglichen Herzinfarkt. Parteiaktivisten bestätigen jedoch, dass der Ennahda-Vize seit seiner Verhaftung jegliche Nahrung und Medikamente verweigert.
Das wäre lebensbedrohlich, da Bhiri an mehreren chronischen Krankheiten wie Diabetes leidet. „Normalerweise nimmt er 16 Tabletten am Tag“, sagt Mondher Ounissi, Arzt und Mitglied des Ennahda- Exekutivbüros.
Die tunesische Aktivistengruppe „Bürger gegen den Putsch“ warnte, Präsident Kais Saied sei für Bhiris Gesundheitszustand persönlich verantwortlich. Mehrere ihrer Mitglieder sind seit dem 23. Dezember selbst im Hungerstreik gegen die „Alleinherrschaft“ des Präsidenten. An diesem Tag war Monzef Marzouki, Tunesiens erster Interimspräsident nach dem „Arabischen Frühling“ 2011, nach Saied-kritischen Äußerungen im Exil in Frankreich in Abwesenheit zu vier Jahren Haft verurteilt worden.
Seit 25. Juli keine demokratische Kontrolle
Tunesiens Präsident Kais Saied regiert seit seiner Absetzung der Regierung und des Parlaments am 25. Juli ohne jegliche demokratische Kontrolle. Premierministerin Najla Bouden wird regelmäßig zum Rapport in den Präsidentenpalast geladen. Die Ennahda, seit der Demokratisierung Tunesiens im „Arabischen Frühling“ Anfang 2011 an allen elf Regierungen beteiligt, gilt als Saieds gefährlichster Gegner. Sie verlangt die Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie, Saied will lediglich ein Parlament aus Lokalvertretern zulassen.
Da Saieds Vorgehen von den meisten Tunesiern noch immer unterstützt wird, aus Enttäuschung über die geringen Leistungen der wechselnden Regierungen seit 2011, hat Ennahda-Chef Ghannouchi den Begriff „Putsch“ für Saieds Coup aus seinen Reden gestrichen und dem Präsidenten Kooperationsangebote gemacht.
Ennahda-nahe Lobbyisten in Washington und Brüssel werden jedoch für die Streichung der ausländischen Unterstützung des de facto brankrotten tunesischen Staates verantwortlich gemacht.
Ebenfalls am Freitag begann der von Präsident Kais Saied im Dezember angekündigte landesweite Bürgerdialog zur Erarbeitung einer neuen Verfassung. Bis zum 20. März können Vorschläge und Ideen auf einer Onlineplattform eingereicht werden. Eine von Saied ausgewählte Kommission wird dann einen Verfassungstext ausarbeiten, über den am 25. Juli abgestimmt wird, genau ein Jahr nach der Machtergreifung des Universitätsprofessors.
Für den 14. Januar bereitet die Gruppe „Bürger gegen den Coup“ Massenproteste gegen Saied vor. Habib Bouajila, einer der Gründer, bekräftigt gegenüber der taz, dass der bisher Saied-treue Gewerkschaftsdachverband UGTT sich dem Aufruf anschließen wird. Dass sich die Ennahda anschließen wird, gilt nach der Verhaftung Bhiris als unwahrscheinlich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
SPD-Linker Sebastian Roloff
„Die Debatte über die Kanzlerkandidatur kommt zur Unzeit“
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los