Politische Krise in Tunesien: Ausnahmezustand in Dauerschleife
Tunesiens Präsident hat die Sondervollmachten um unbestimmte Zeit verlängert – Regierung und Parlament bleiben suspendiert. Und nun?
Während Gewerkschaften und Parteien zunächst keine Reaktion zeigten, werden Vertreter der Zivilgesellschaft zunehmend kritisch. Die Verfassungsrechtlerin Mouna Kraiem erklärte gegenüber Tunisienumérique, der Präsident habe den Rahmen der Verfassung nun endgültig verlassen: „Die unbestimmte Zeit und das Fehlen eines Fahrplans deuten darauf hin, dass die Präsidentschaft keinen wirklichen Plan hat und improvisiert.“
Aktivist Omar ben Amor
Die Gründer der Antikorruptionsbewegung Manich Msamah und anderer Initiativen wollten sich am Dienstag Abend in Tunis treffen, um eine neue Bewegung zum Schutz der Verfassung zu gründen. Gegenüber der taz warnten sie, dass Saieds Isolation im Präsidentenpalast und seine Kooperation mit dem verhassten Innenministerium zu neuen Konflikten mit der Zivilgesellschaft führen kann. Schon jetzt bleiben sie aus Angst vor Verfolgung lieber anonym.
Weit entfernt erscheint der 25. Juli, der Tag der Republik, als der Präsident mit einem Paukenschlag die Regierung absetzte, das Parlament entmachtete und viele Menschen in Tunesien jubelten. Die Einheit des Landes sei in Gefahr, daher würde ihn Paragraf 80 der Verfassung zu der vorübergehenden Machtübernahme zwingen, so Saied damals bei seiner Fernsehansprache an das Volk in Gegenwart von Armee- und Polizeigenerälen.
Putsch von oben
Viele Juristen zweifelten schon damals an Saieds Auslegung des Paragrafen und sprachen von einem Putsch von oben. Doch mangels eines Verfassungsgerichts war der Widerstand der Abgeordneten nur gering. Viele warten die Sommerpause ab, statt ihre Rückkehr in das mit Stacheldraht abgeriegelte Gebäude im Stadtteil Bardo zurückzufordern.
Denn der Jurist Saied, im Jahr 2019 mit über 70 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt, hatte am 25. Juli die Mehrheit der Tunesier an seiner Seite. Wenige Minuten nach seiner Rede füllten sich die Straßen im ganzen Land trotz Ausgangssperre mit jubelnden Menschen. Den Staat erleben viele Tunesier seit der Revolution von 2011 als Grund für das Fortdauern von Korruption und Vetternwirtschaft.
Anfang Juli war die Covid-Infektionsrate in Tunesien und die Todesrate auf einen weltweiten Höchststand gestiegen. Weder Regierung noch Parlament hatten sich auf einen Aktionsplan einigen können. Im Gegenteil, Oppositionsführerin Abir Moussi lieferte sich mit den Islamisten der Karama-Partei erbitterte Rededuelle, die in physischen Angriffen auf sie endeten. „Die Abgeordneten, viele aus 22 Kleinstparteien, wurden zu einem Inbegriff dafür, dass Demokratie nicht nur aus Wahlen besteht“, sagt der Aktivist Omar ben Amor.
Parlamentspräsident Rahed Ghannouchi, der 80-jährige Vorsitzender der islamistischen Ennahda-Partei, ließ die oft live im Fernsehen übertragenen Handgemenge und Schmähungen gewähren. Sein Parteifreund Abdelkarim Harouni schaffte es dann, den Volkszorn auf die Ennahda zu lenken: Er forderte die Regierung auf, bis 25. Juli die 16.000 Opfer des Ben-Ali-Regimes, mehrheitlich verfolgte Ennahda-Anhänger, finanziell zu entschädigen.
„Dass Ennahda die Aufarbeitung der Diktatur nur für ihre Parteimitglieder forderte, war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte“, analysiert rückblickend Aktivist Omar ben Amor. Am Vormittag des 25. Juli stürmten junge Demonstranten Ennahda-Büros in mindestens zwölf Städten und lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei. Am Abend dann suspendierte der Präsident Parlament und Regierung.
Forderung nach Einhaltung von Reformen
„Auf so eine Eskalation hatte Kais Saied gewartet“, sagt ben Amor aus der Handelsstadt Sfax südlich von Tunis. Wie viele seiner Generation unterstützt der 29-Jährige die Maßnahmen des Präsidenten, jedoch mit Skepsis. „In der Provinz ist unser Feind die Korruption in Justiz, Polizei und Verwaltung“, sagt Ali, der sich zusammen mit Omar um verurteilte Jugendliche in Gefängnissen kümmert. „Kaies Saied und die Parlamentarier in Tunis sind uns egal.“
In den vier Wochen seit seiner Selbstermächtigung hat Saied mehrere Provinzgouverneure ausgetauscht, die Justiz ermittelt gegen 64 Abgeordnete sowie eine unbekannte Zahl von Geschäftsleuten wegen Geldhinterziehung. Immer mehr Tunesier fordern aber jetzt einen klaren Zeitplan für die von Saied angekündigte Wahlrechts- und Verfassungsreform, die unter anderem die Zersplitterung des Parlaments durch eine Zehnprozenthürde beenden soll.
Manche Beobachter denken aber, dass Saied weitergehen und das Parlament durch auf Gemeindeebene gewählte Delegierte ersetzen möchte. „Wir schauen uns genau an, was Kais Saied vorhat“, warnt Omar ben Amor, „und gehen wieder auf die Straße, wenn die Demokratie in Gefahr ist.“
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