Politikerin über Umgang mit Bettlern: „Mehr Sozialrechte für EU-Ausländer“
Die Grüne Mareike Engels ist dagegen, in der Hamburger Innenstadt das Betteln im Sitzen zu unterbinden. Helfen würde, das Sozialsystem zu öffnen.
taz: Frau Engels, in Hamburgs Innenstadt geht die Polizei seit einigen Wochen rigider gegen Bettler vor. Findet das die Zustimmung der Grünen?
Mareike Engels: Uns ist wichtig, dass in der Innenstadt auch Obdachlose ihren sicheren Platz finden können. Da spielen natürlich auch Polizei und Ordnungsdienste eine Rolle, wenn Bettler sich nicht an Regeln halten, etwa belästigen oder anpöbeln. Aber reines Betteln ist nicht verboten. Es ist schwer auszuhalten, Armut und Elend zu sehen. Aber das gehört zur Realität unserer Stadt und sollte nicht generell ordnungsrechtlich belangt werden.
Die Polizei toleriert Betteln im Liegen oder Sitzen nicht mehr. Finden Sie das richtig?
Die Grenze muss sein, wenn andere Menschen wirklich gestört werden. Und zwar nicht, dass der Anblick stört, sondern weil sie tatsächlich beeinträchtigt werden. Dann muss eingegriffen werden, und zwar angemessen und sensibel. Aber dass beim Betteln sich hingesetzt wird, finde ich jetzt nicht so das Problem.
Sie schrieben auf Facebook: „Nicht die Regeln sind verschärft worden, aber ihre Auslegung durch die Polizei.“ Haben Sie denn eine Erklärung dafür, wieso das jetzt passiert?
Wir haben rund um den Hauptbahnhof eine Zunahme von Personen, die stark in soziales Elend gestürzt sind. Neben Obdachlosen gehören dazu auch Suchtkranke. Hier treffen verschiedene Schwierigkeiten auf engem Raum zusammen. Und dann ist der Hauptbahnhof der meistgenutzte Bahnhof nach Paris in Europa. Es ist extrem voll.
Es gibt Dichtestress?
Genau. Dass es zu Nutzungskonflikten kommt, liegt nahe. Und dass die Polizei eine Rolle spielt, um die Sicherheit aller zu gewährleisten, ist nicht das Problem. Aber die Innenstadt muss für die Schwächsten unserer Gesellschaft ein sicherer Ort sein.
Hat sich die Lage wegen der Pandemie verschärft?
Mareike Engels
34, ist Vizepräsidentin der Hamburger Bürgerschaft und sozialpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion.
Die zunehmende Verelendung sah man schon vor der Pandemie. Aber sie war ein Katalysator, weil viele Hilfeprozesse abbrachen und Menschen nicht so gut geschützt waren und arbeitslos und obdachlos wurden. Hinzu kommt, das es Obdachlose aus EU-Ländern gibt, die keine sozialrechtlichen Ansprüche haben. Sehen die die Rückkehr ins Heimatland nicht als Perspektive, dann haben wir für sie hier vor Ort im Grunde nur niedrigschwellige Hilfen. Und damit ist keine Überwindung von Obdachlosigkeit möglich.
Man kann nicht gut helfen?
Auch hier finden Sozialarbeiter*innen immer wieder Lösungen. Aber es ist extrem schwierig. Die Betroffenen haben keinen Anspruch auf öffentliche Unterbringung, auf Sozialleistungen und Kosten der Unterkunft.
Sie sagen, die „Law-and-Order -Fraktion“ beutet diese Zuspitzung der Probleme aus. Was meinen Sie damit?
Die Äußerungen aus dem rechten Spektrum, laute Rufe nach restriktiven Maßnahmen. Da hat Hamburg ja eine Geschichte, Stichwort Schill.
Sie sagen, mühsamer wäre die Suche nach Lösung. Dafür bräuchten wir wirksamere, soziale Hilfen und einen Ansatz zur Konflikt-Regulierung, der mit allen Betroffenen arbeitet. Haben Sie dafür eine Idee?
Das eine sprach ich schon an. Wenn wir nicht sozialrechtlich die Ansprüche für EU-Ausländer erweitern, dann werden wir das Ziel, Obdachlosigkeit bis 2030 zu überwinden, nur sehr schwer erreichen. Wenn überhaupt. Denn wir brauchen für jeden einzelnen Obdachlosen eine Lösung. Wenn, wie die Zählung von 2018 ergab, tatsächlich 70 Prozent nur begrenzt anspruchsberechtigt sind, dann brauchen wir andere sozialrechtliche Lösungen. Und zwar auf Bundesebene.
Startet Hamburg eine Initiative, das im Bund zu ändern?
Nein. Da gibt es zwischen den Parteien auch im Bund keinen Konsens. Viele glauben, dass das eine Sog-Wirkung entfaltet. Aber wenn Menschen wirklich hier bei uns auf der Straße ihren Lebensmittelpunkt haben, dann brauchen sie eine Chance, ins Sozialrecht zu kommen. Das könnte für den deutschen Staat sogar günstiger werden.
Es gibt ja in Hamburg ein ‚Housing First'-Projekt. Wie läuft das denn?
Das gibt es ja noch nicht so lange. Aber da höre ich richtig gute Berichte. Wir bieten dort Menschen, die lange obdachlos waren und für die der Weg über eine öffentliche Unterkunft nichts war, die Chance, von der Straße in die eigene Wohnung zu kommen. Unabhängig davon, was sie sonst für Schwierigkeiten hatten. Auch, wenn es erst mal mit 30 Plätzen eine kleine Zahl ist, lässt sich das ausbauen.
Wann entscheidet sich das?
Es wird gerade erprobt, wie das Housing-First-Konzept im hiesigen Wohnungsmarkt und Hilfesystem gut integrierbar ist und ob es noch Anpassungsbedarf in der Konzeption gibt. Ich habe keine Zweifel, dass Housing First auch in Hamburg ein Erfolg wird. Und auch, dass wir dann zügig weitere Kapazitäten schaffen.
Das Winternotprogramm ist gerade beendet und es durften 110 kranke Obdachlose dort bleiben. Nach welchen Kriterien wurde das entschieden?
Hieran zeigt sich, dass es diese Verelendung gibt. Es ist nicht mehr so wie früher, wo das Winternot-Programm Ende März geschlossen werden konnte. Die Gruppe hat sich verändert. Es sind viele Kranke, viele Ältere, viele Pflegebedürftige. Das ist dramatisch. Es zeigt auch, wie sehr die Wohnungsnot zugenommen hat.
Brauchen wir eine Pflegestation für Obdachlose?
Die Bahnhofsmission hat gerade eine Notpflegestation eröffnet und die Stadt hat ein Angebot und wird noch weitere schaffen.
Brauchen wir ein ganzjähriges Notprogramm?
Mit dem Pik As und dem Frauenzimmer haben wir ja ein ganzjähriges Notprogramm. Wir sollten aber fernab ritualisierter Debatten rund ums Winternotprogramm darüber reden, ob es veränderte oder andere Unterkunftsangebote braucht.
Es gab Samstag eine Demo gegen das Bettelverbot. Gibt es in der Koalition Gespräche über die Praxis?
Was alle eint, ist der Wunsch, die sozialen Probleme zu lösen. Und dann gibt es einfach unterschiedliche Rollen und unterschiedliche Aufgaben.
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