: Polens Opposition vor einer Zerreißprobe
■ Die Amnestie und das Angebot einer begrenzten gewerkschaftlichen Pluralität in den Betrieben haben zu scharfen Auseinandersetzungen innerhalb der polnischen Opposition geführt / Adam Michnik beharrt auf der Eigenständigkeit der verbotenen Gewerkschaft Solidarnosc
Von Jacek Kowalsky
Der polnische Innenminister General Czeslaw Kiszczak hat am Donnerstag die Freilassung aller politischen Gefangenen in Polen bis kommenden Montag angekündigt. Ausgenommen bleiben Personen, denen „Terrorismus, Spionage, Sabototage und Hochverrat“ vorgeworfen wird. Trotz dieser Einschränkungen gehen auch die Oppositionellen davon aus, daß alle politischen Gefangenen, auch der erst im Mai verhaftete Chef der Untergrundführung von Solidarnosc, Zbigniew Bujak, freikommen werden. Damit hat das Regime gegenüber der Opposition ein neues Zeichen gesetzt, denn nun beharrt die Regierung nicht mehr darauf, daß die politischen Gefangenen abschwören, bevor sie freigelassen werden. Die Verpflichtung, sich nicht mehr politisch zu betätigen, ent fällt. Offensichtlich hofft Jaruzelski mit dieser Maßnahme auf ein größeres Agreement mit der Opposition. Unbemerkt von der Öffentlichkeit wurden schon seit Wochen Gespräche mit kirchlichen Experten geführt, die zum Ziel hatten, Möglichkeiten auszuloten, wie eine gewerkschaftliche Pluralität in den Betrieben aussehen könnte. Daß diese Diskussion bei den Aktivisten von Solidarnosc Unruhe und Auseinandersetzungen hervorbringt, die zu einer Zerreißprobe führen könnte, ist wohl auch Teil des politischen Kalküls der Regierung. Zwei Positionen schälen sich in dieser Diskussion heraus. Es gibt nun schon seit längerem Kräfte in der Opposition, die einen Kompromiß mit der Regierung anstreben. Die katholischen Experten, die ja schon in Verhandlungen eingetreten sind, kommen aus dieser Ecke. Für sie, so fürchten andere, geht es nur noch darum, den Preis auf beiden Seiten zu bestimmen. Dagegen hat sich Adam Michnik ausgesprochen, er fürchtet um die Eigenständigkeit von Solidarnosc. Ein Kompromiß mit der Regierung wäre für ihn gleichbedeutend mit der Aufgabe der Solidarnoscstrukturen. Die Selbständigkeit der Opposition aber sei die einzige Garantie für ihr Überleben. Und dieser Preis könne nicht bezahlt werden, denn wenn es nach der anderen Strömung ginge, müßte Walesa die Untergrundführung von Solidarnosc wie auch die Auslandsvertretung in Brüssel auflösen. Geschähe dies aber, so Michnik, wäre Solidarnosc und auch die polnische Opposition atomisiert. Außerdem führte eine solche Strategie zu einer Eliminierung wichtiger Strömungen aus der oppositionellen Bewegung, sowohl sozialdemokratische wie auch andere Gruppen blieben von einem solchen Kompromiß ausgespart. Gerade die ideologische Vielfalt innerhalb der Einheit von Solidarnosc habe die Stärke der polnischen Opposition hervorgebracht. Auch Walesa möchte die Gewerkschaftseinheit nicht gefährdet sehen. Doch gibt es viele Aktivisten, die Michniks Standpunkt für idealistisch halten. Denn die Tatsache, daß die Regierung sich nun in ihrer Befriedungsstrategie so weit hervorgewagt hat, ist für sie ein Zeichen, daß über Verhandlungen wesentliche Verbesserungen für die Arbeiter und andere gesellschaftliche Kräfte herausgeholt werden können. Michnik hingegen hält die Angebote, so jedenfalls kolportieren dies seine Freunde, der Regierung vor allem für eine Schwäche des Systems, das sich gerade mit der Atomisierung der Opposition und von Solidarnosc wieder stärken würde. Innenminister Kiszcak erwartet, daß bei den führenden Leuten der Oppositon die „Vernunft einkehren wird“. Die Feinde des Sozialismus müßten nun verstehen, daß der Kampf nicht nur „hoffnungslos, sondern auch für Polen schädlich ist.“ Die Freilassung der politischen Gefangenen führe zu einer Stabilisierung der innenpolitischen Lage.
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