Polen: Parlament entscheidet über Neuwahlen
Am Freitag stimmt das Parlament über seine Selbstauslösung ab. Drei fast gleichlautende Anträge auf Selbstauflösung des Sejm liegen vor - ob einer duchkommt, ist noch nicht klar.
Am Freitag entscheiden Polens Abgeordnete, ob es am 21. Oktober tatsächlich zu vorgezogenen Neuwahlen kommt. Doch es liegen gleich drei Anträge auf Selbstauflösung des Parlaments (Sejm) vor. Zwei von Oppositionsparteien, der konservativ-liberalen Bürgerplattform (PO), dem postkommunistischen Bündnis der demokratischen Linken (SLD), und ein Antrag von der Regierungspartei selbst, der national-konservativen Recht und Gerechtigkeit (PiS).
Drei fast gleich lautende Anträge zu einem Thema sind in Polen das untrügliche Zeichen dafür, dass keinerdurchkommen wird. Benötigt wird noch dazu eine Zwei-Drittel-Mehrheit, also 307 von 460 Stimmen. Die SLD aber hat angekündigt, nur für den eigenen Antrag stimmen zu wollen. Er steht auf der Tagesordnung ganz oben. Sollte es PO und PiS ernst sein mit ihrem Willen, über die Selbstauflösung des Sejms den Weg zu Neuwahlen frei zu machen, müssen sie heute in den sauren Apfel beißen und den SLD-Antrag samt Begründung unterstützen. Kommt der Antrag durch, kann Staatschef Lech Kaczynski, der Zwillingsbruder des Regierungschefs Jaroslaw Kaczynski, innerhalb von 45 Tagen Neuwahlen ansetzen.
Es wäre das erste Mal in der Geschichte der jungen Demokratie Polens, dass die Abgeordneten freiwillig auf ihre hohen Diäten und Vergünstigungen zugunsten von vorgezogenen Neuwahlen verzichteten. Schenkt man jedoch den offiziellen Erklärungen der polnischen Politiker Glauben, sind alle gleichermaßen genervt von dem "Zirkus" im Sejm und den zahlreichen Abhör-, Sex- und Korruptionsskandale in der nationalkonservativen Regierung.
Allen voran Jaroslaw Kaczynski, der Premierminister: "So kann es nicht weitergehen!", regte er sich unlängst der ultrakatholischen Tageszeitung Nasz Dziennik auf und schob die Schuld am Zerbrechen der Regierungskoalition der rechtsradikalen Liga der polnischen Familien (LPR) und der populistischen Bauernpartei Samoobrona zu. Dass es ein Fehler gewesen sein könnte, eine Koalition mit diesen radikalen Parteien einzugehen, streitet Kaczynski ab.
Roman Giertych und Andrzej Lepper, die Parteichefs von Samoobrona und Liga, werfen dem Premier vor, von Anfang an darauf hingearbeitet zu haben, ihren Ruf zu ruinieren und sie damit aus dem politischen Leben Polens auszuschließen. Kaczynskis Ziel sei gewesen, die Wählerschaft von Samoobrona und Liga zu übernehmen. Umfragen zufolge werden die beiden Parteien nicht mehr in den nächsten Sejm einziehen. Die Selbstauflösung des Sejms kann also nicht in ihrem Interesse sein.
Sollten Polens Abgeordneten sich heute doch nicht selbst entlassen wollen, gibt es noch zwei Möglichkeiten, vorgezogene Neuwahlen herbeizuführen. Der klassische Weg wäre der Rücktritt des Premiers und seiner Regierung. In einer dramatischen Fernsehansprache versicherte Jaroslaw Kaczynski vor ein paar Tagen, dass er bereit sei, für seine Prinzipien auch mit dem Verlust der Macht zu bezahlen. In seinen Wahlspots, die bereits seit Wochen im staatlichen Fernsehen TVP laufen, sagt er nichts anderes: "Prinzipien verpflichten.
Zum Zug kommt heute aber eher die oppositionelle Bürgerplattform mit ihren Misstrauensanträgen gegen jeden einzelnen Minister. Sollten die Oppositionsparteien, die seit dem Zusammenbruch der Regierungskoalition vor zwei Wochen die Mehrheit im Sejm stellen, jedem einzelnen Minister das Misstrauen aussprechen, wäre dies das Ende der Regierung Kaczynski.
Im einen wie im anderen Fall müsste Präsident Kaczynski Neuwahlen ausrufen. Frühester Termin wäre der 21. Oktober. Ein einziges Hindernis gibt es noch: den Sejmmarschall (Parlamentspräsidenten) Ludwik Dorn. Der "dritte Zwilling", wie der treue Anhänger der Kaczynski-Brüder genannt wird. bestimmt die Tagesordnung der Sejmsitzung. Vor ihm hängt es ab, wie der heutige Tag endet. Er kann auch eine Pause verhängen. Dann passiert erst mal gar nichts.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind