Polen übernimmt EU-Ratspräsidentschaft: "Wir sind Europa"
Polen hat sich für in Europa viel vorgenommen: Die militärische und energiepolitische Sicherheit hat Priorität. Ungarns Erbe halten Experten für so schlecht nicht.
WARSCHAU taz | Polen feiert begeistert die Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft. "Ab heute sind wir Europa!", titelt Polens bedeutendste Tageszeitung Gazeta Wyborcza. "Polen führt die Union" und "Polen regiert ab heute mit der Europäischen Union", legen die konservativen Blätter Rzeczpospolita und Polska nach. Der EU-Enthusiasmus in Polen ist mit 83 Prozent Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft so hoch wie nie zuvor. Obwohl mit der Euro- und Griechenlandkrise schwer zu lösende Probleme anstehen, ist Polens Premier zuversichtlich, die EU in den nächsten sechs Monaten wieder auf Wachstumskurs bringen zu können. "Wir wollen zur treibenden Kraft Europas werden", kündigte Donald Tusk in Warschau an.
"Unser Erfolg hängt aber auch von den anderen EU-Mitgliedern ab", schränkt Agnieszka Lada, Europa-Expertin im Warschauer Institut für Öffentliche Angelegenheiten, ein. Die Zeitungstitel suggerierten eine Machtfülle, die seit dem Lissabon-Vertrag kein Land mehr habe, das den Vorsitz im Rat der Europäischen Union übernehme. Mit Herman Van Rompuy habe die EU einen ständigen Ratspräsidenten und mit Lady Catherine Ashton eine Außenministerin. "Unsere Rolle wird eher die des Moderators und Koordinators sein", so Lada. "Je besser und verantwortungsvoller wir diese Aufgabe angehen, umso erfolgreicher wird unsere Präsidentschaft."
Ungarns Premier Viktor Orban wirkte nervös, als er in Warschau den symbolischen Stab, eine Europafahne, und zur Feier des Tages auch ein Fässchen Tokajer übergab. "Die Ratspräsidentschaft Ungarns begann fatal mit dem zensurähnliche Mediengesetz", stellt Lada fest. Die ganze EU habe von Januar bis Juni 2011 nur noch auf die innere Entwicklung Ungarns geschaut, so dass die durchaus beachtlichen Ergebnisse der ungarischen Ratspräsidentschaft untergegangen seien.
"Wir treten kein schlechtes Erbe an"
Immerhin sei der arabische Frühling in die Zeit der ungarischen Präsidentschaft gefallen, die Griechenland- und Euro-Krise, die teilweise Aussetzung des Schengen-Abkommens und Verhaftung vieler Oppositioneller in Weißrussland. Darauf habe die EU reagieren müssen. "Die Konferenzen und Gipfel hat Budapest organisiert und geleitet. Zudem konnten die Beitrittsverhandlungen mit Kroatien abgeschlossen werden. Auch das ist ein Erfolg", wertet die EU-Expertin. "Wir treten also gar kein so schlechtes Erbe an."
Polen hofft, die Ratifizierung des Beitrittsvertrages Kroatiens in den nächsten sechs Monaten beenden zu können. Zudem sollen die EU-Beitritts-Verhandlungen mit Island und der Türkei fortgesetzt sowie Beitrittsgespräche mit Serbien aufgenommen werden. Für September plant Polens Regierung einen Gipfel zur Östlichen Partnerschaft in Warschau. Diese Initiative, die Polen mit Schweden 2008 aus der Taufe hob, soll die Ukraine, Georgien, Moldawien, Weißrussland, Armenien und Aserbaidschan durch die Unterstützung demokratischer und wirtschaftlicher Reformen stärker an die EU binden.
Neben der EU-Erweiterung und der "Östlichen Partnerschaft" steht noch die militärische und energiepolitische Sicherheit der EU ganz oben auf Prioritätenliste. So will Warschau erreichen, dass künftig nicht mehr jedes EU-Land mit Öl- und Gaslieferländern wie Russland verhandelt, sondern diese Aufgabe vom Energie-Kommissar für alle oder einen großen Teil der EU-Mitglieder übernommen wird. Damit soll die Öl- und Gas-Abhängigkeit von Russland gemindert werden. Agnieszka Lada hält diese Ziele für "ambitioniert, aber realistisch".
Polens Regierungschef Tusk forderte die EU-Mitglieder denn auch schon am ersten Tag der polnischen Präsidentschaft zu mehr Solidarität auf. Angesichts der Wirtschaftskrise und einer erneuten und wachsenden Europaskepsis solle die europäische Solidarität mehr als nur ein Slogan sein. So sollte Griechenland nicht nur mit Geld und neuen Krediten geholfen werden. Vielmehr müsse die EU auch dafür sorgen, dass die griechische Wirtschaft eine Chance bekomme, wieder auf die Füße zu kommen.
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