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Polen hadert mit seiner Gauck-Behörde

■ Präsident Kwasniewski stellt die Persönlichkeitsrechte früherer Geheimdienst-Mitarbeiter über das Recht der Opfer auf Wahrheit

Warschau (taz) – Ist es gerecht, wenn Opfer mehr Rechte haben als Täter? Ist es gerecht, wenn die Opfer in den Akten ihre Peiniger kennenlernen, die Täter davon aber nicht automatisch erfahren? Der polnische Staatspräsident Aleksander Kwasniewski sieht durch solche Rechte die Demokratie in Gefahr geraten. Vor wenigen Tagen legte der frühere Kommunist sein Veto gegen die Einrichtung einer polnischen Gauck-Behörde ein.

Die Chancen des Parlaments, das Veto zu überstimmen, sind gering. Die Regierungskoalition aus konservativer Wahlaktion (AWS) und liberaler Freiheitsunion (UW) verfügt nicht über die erforderliche Dreifünftelmehrheit. Die Sozialdemokratie Polens, die die Nachfolge der früheren Polnischen Vereinten Arbeiterpartei angetreten hat, signalisierte bereits volles Einverständnis mit ihrem früheren Vorsitzenden Kwasniewski. Noch in diesem Monat soll über das Veto abgestimmt werden.

Während die einfachen Menschen bis heute ihre Stasi-Akten nicht einsehen können, ist das Gesetz für die oberen Zehntausend in Polen bereits durch. Allerdings schützt das „Lustrations“- oder „Durchleuchtungsgesetz“ weniger die Interessen der Opfer als die des polnischen Staates. In der noch jungen Demokratie Polens sollen frühere Spitzel des Sicherheitsapparates nicht in die höchsten Ämter des Staates aufsteigen können, ohne daß deren Vergangenheit allgemein bekannt wäre. Bis heute müssen der Präsident Polens, die Minister und Parlamentarier, die Richter, die Staats- und Rechtsanwälte, die Leiter großer Behörden sowie die Chefs der öffentlich- rechtlichen Medien ihre „Lustrationserklärung“ abgeben – insgesamt rund 20.000 Personen.

In einem winzigen Büro bereiten sich der siebzigjährige Richter Boguslaw Nizienski und seine beiden Stellvertreter auf die Erklärungslawine vor. Ab dem 1. Januar nächsten Jahres soll das Büro bereits die ersten Lustrationserklärungen überprüfen. Nizienski will zunächst sechs Spezialisten einstellen. Ob er selbst der richtige Mann für die schwierige Aufgabe ist, bezweifeln viele. Kritiker werfen dem glühenden Antikommunisten vor, er wolle von seinem Amt aus einen Feldzug gegen die politische Linke führen. Tatsächlich weist Nizienski zwar den Vorwurf mangelnder Objektivität zurück, kündigt aber immer wieder an, die politische Szene „säubern“ zu wollen.

Nizienski hat weitreichende Vollmachten. Erscheint ihm eine Erklärung verdächtig, kann er Zeugen verhören, weitere Dokumente einfordern und Hausdurchsuchungen anordnen. Darüber hinaus hat er Zugang zu sämtlichen Akten des Geheimdienstes und Staatsschutzes, des Innen- und Außenministeriums. Der enorme Aufwand dient nur der Wahrheitsfindung. Wer seine Verstrickung mit dem Geheimdienst zugibt, kann seinen Posten sogar behalten. Strafen für Ex-Spitzel sind nicht vorgesehen. Es sei denn, sie lügen. Wenn das Büro von Nizienski herausbekommt, daß die Lustrationserklärung geschönt oder gefälscht ist, droht dem Abgeordneten oder Fernsehintendanten ein zehnjähriger Ausschluß von allen öffentlichen Ämtern.

Bereits vor den Parlamentswahlen im September 1997 hatten alle Kandidaten einen Lustrationsbogen ausfüllen müssen. Doch von über 7.000 Politikern hatten sich nur elf als frühere Spitzel geoutet. Das Nachrichtenmagazin Wprost schätzt, daß mindestens fünfzig weitere Abgeordnete mit der Chance gerechnet haben, bei einer oberflächlichen Überprüfung durch das Raster zu fallen. Die zweite „Durchleuchtung“, so Wprost, dürfte wohl so manchen Abgeordneten dazu bewegen, „aus persönlichen Gründen“ künftig auf die Diäten zu verzichten. Gabriele Lesser

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