Polen /EU: "Mehrheit der Polen ist gegen ein Veto"
Die polnische Position zur EU-Machtverteilung ist nicht absurd. Falsch ist allerdings die Veto-Drohung. Wenn der EU-Gipfel in Brüssel an Polen scheitert, hat auch Polen verloren, so der Publizist Piotr Boras
taz: Herr Buras, Polens Staatspräsident, Lech Kaczynski, will in Brüssel für die Quadratwurzel sterben. Ist das nur ein Bluff?
Piotr Buras: Das ist vor allem Rhetorik. Damit soll klargemacht werden, dass die polnische Regierung in der Frage "Wer soll wie viele Stimmen im EU-Rat haben?" kompromisslos bleibt.
Auf wen soll diese Drohung Eindruck machen?
Auf Deutschland. Zum einen, weil Deutschland die Ratspräsidentschaft innehat und großes Interesse am Erfolg des EU-Gipfels. Zum anderen, weil Deutschland als großer Staat von der "doppelten Mehrheit" im EU-Rat am meisten profitieren würde.
Was ist mit den polnischen Wählern?
Auf die natürlich auch. Die kompromisslose Art, wie polnische Politiker das nationale Interesse in der EU durchsetzen, kommt bei einem Teil der Polen gut an. Die Mehrheit ist aber gegen ein polnisches Veto.
Was ist eigentlich so attraktiv an der Quadratwurzel?
Sie garantiert eine gerechtere Machtverteilung im EU-Ministerrat. Das macht sie attraktiv. Auch wenn sie auf den ersten Blick kompliziert wirkt.
Im Grunde will Polen die EU aber erpressen, oder?
Ich würde sagen, die polnische Regierung versucht, so viel Druck wie möglich aufzubauen.
Was würden Polen sagen, wenn ein kleines, aber reiches Land in der EU fordern würde: "Bruttoinlandsprodukt oder der Tod"?
Diese Frage ist nicht fair. In dieser Debatte um die Quadratwurzel geht es um die grundsätzliche Frage, wie die Machtverteilung zwischen den EU-Mitgliedstaaten geregelt sein sollte. Darüber muss man reden können.
Gut - aber wäre es für Polen akzeptabel, wenn ein anderes Land seine Forderungen mit einer Vetodrohung verbindet?
Ich bin kein Anhänger von Vetodrohungen. Aber es geht hier um eine fundamentale Frage des EU-Machtsystems.
Also ist die Vetodrohung Polens doch prinzipiell richtig?
Nein. Prinzipiell richtig wäre es gewesen, das Thema der Stimmengewichtung auf die Gipfel-Agenda zu setzen. Falsch hingegen wäre das Veto Polens gegen die Regierungskonferenz. Legt Polen tatsächlich sein Veto ein, ist seine Politik gescheitert. Das Problem ist, dass die polnische Forderung sehr spät kommt. Das Thema "Machtverteilung im EU-Rat" wurde bereits ausführlich diskutiert und gilt als abgeschlossen. Die gefundene Lösung, also die doppelte Mehrheit, ist aber nicht gerecht. Jeder Staat hat eine Stimme, die durch die jeweilige Bevölkerungszahl mehr oder weniger wiegt. Dieses System bevorzugt eindeutig die großen Staaten. Jetzt stellt sich die Frage: Begnügen wir uns mit dem schlechteren System, kommen aber mit dem Verfassungsvertrag voran? Oder diskutieren wir alles von vorne und riskieren das Scheitern des Verfassungsvertrages?
Genau das will Angela Merkel verhindern. Die Furcht, dass die Debatte dann wieder Jahre dauert, teilen die meisten anderen Staaten. Gibt es einen Ausweg?
Mit 82 Millionen Menschen ist Deutschland für die Nachbarn ein wirtschaftlicher und politischer Machtkoloss. Es wäre schon viel gewonnen, wenn Kanzlerin Merkel zumindest anerkennen könnte, dass es in der EU ein "Deutschland-Problem" gibt. Das würde einen Kompromiss sicher erleichtern.
Wieso machte eigentlich die erste Parole "Nizza oder der Tod", die 2003 der damalige Oppositionsführer Rokita prägte, so große Furore in Polen?
Das wirkte nur durch die Medien so. In Wirklichkeit war schon damals ein großer Teil der Bevölkerung gegen das polnische Veto, ebenso wie jetzt auch. Über die Hälfte der Polen will einen europäischen Verfassungsvertrag.
Ist Leszek Miller ein politisches Vorbild der Kaczynskis? Immerhin scheiterte 2003 der EU-Gipfel in Brüssel durch das Veto des postkommunistischen Regierungschefs Polens.
Das glaube ich nicht. Damals war die Situation anders. Polen wurde von Spanien unterstützt. Heute sind die Kaczynskis isoliert in der EU. Damals stand Miller unter dem Druck der Opposition, von Rokita, aber auch den Kaczynskis. Millers Partei war in der Wählergunst auf einen historischen Tiefstand gesunken und musste außenpolitisch die Politik der Opposition übernehmen. Sonst wäre sie völlig untergegangen. Das damalige Veto war ein Vorbote der heutigen EU-Politik Polens.
Wenn nicht Leszek Miller das Vorbild ist, dann vielleicht Fidel Castro? Immerhin gehen die Schlachtrufe "Nizza oder der Tod!" und "Quadratwurzel oder der Tod!" auf Castros "socialismo o muerte" zurück.
Fidel Castro und Jaroslaw Kaczynski - ein witziges Gespann! Nein, im Ernst: Vorbild sind Charles de Gaulle und Margaret Thatcher. Also Politiker, die sich auf der europäischen Bühne mit ihren Interessen mehrfach durchgesetzt haben. Auch mit Vetodrohungen, Erpressungen und Druck.
Woher rührt dann der Fidel-Castro-Spruch?
Spanisch klingt auch in polnischen Ohren sehr gut: "Nizza o muerte." Da kann man als Pole eigentlich nur Ja sagen. (lacht)
Polnische Politiker fordern immer wieder, dass sie von den EU-Partnern ernst genommen werden möchten. Kann man Politiker ernst nehmen, die für Nizza, die Quadratwurzel oder was auch immer sterben wollen?
Das wird der Gipfel zeigen. Immerhin hatten auch Charles de Gaulle und Margaret Thatcher mit Alleingängen in der EU Erfolg. Für Polen gilt: Wenn es gelingt, mit oder trotz dieser sturen Haltung Verbündete für die weitere Diskussion der Machtfrage im EU-Rat zu gewinnen, hat sich die Vetodrohung ausgezahlt. Selbst dann aber wird die polnische Haltung einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen und die polnische Position in den kommenden Verhandlungen die Koalitionsbildung erschweren. Es kann aber auch sein, dass der Gipfel als "das große Scheitern" in die polnische Geschichte eingehen wird, wenn kein Kompromiss gefunden wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut