piwik no script img

Plädoyer für JugendreisenDie Freiheit, das Falsche zu tun

Kommentar von

Luzie Winkelmann

Auf Jugendreisen muss es Schutzkonzepte geben, schreibt die 18-jährige Autorin. Denn alle jungen Menschen sollten diese Erfahrung der Unabhängigkeit machen können.

Auf einer Jugendreise kann man sich vom Blick der Eltern lösen Foto: Gregor Lengler/laif

J etzt hier den Berg hoch“, erklärte mir der Betreuer mit mildem Lächeln, als ich aus dem klimatisierten Bus in die Wärme des kroatischen Biograd na Moru stieg. Meinen Koffer musste ich den brüchig asphaltierten Weg hochzerren. Ich merkte: Diese Jugendreise wird wahrlich kein Luxusurlaub.

Der Eindruck bestätigte sich im Hotelzimmer, wo uns der Geruch verriet, dass die Bettwäsche nach dem letzten Gast mit schwitzigen Füßen nicht mehr gewechselt wurde. Die saubere(re) Bettwäsche haben wir uns dann selbst aus dem Waschkeller geholt.

Angenehm war das nicht. Aber auf Jugendreisen muss man mit genau solchen Situationen umgehen. Dabei habe ich ein Maß an Autonomie erlernt, was ich sonst mit 15 Jahren nicht erreicht hätte. Das ist jetzt drei Jahre her, aber ich erinnere mich noch gut an die Fahrt. Auf Jugendreisen ist man gezwungen, sich mit ZimmergenossInnen zu koordinieren, um für die Dauer der Reise friedlich zu wohnen, trotz geteiltem Bad oder unterschiedlichem Temperatur- und Ordnungsempfinden.

In den letzten Wochen sind Jugendreisen in die Kritik geraten. In einer Recherche des SWR berichteten ehemalige TeilnehmerInnen, dass es auf diesen Reisen zu sexualisierter Gewalt kam, wobei die BetreuerInnen entweder nicht geholfen haben oder sogar selbst zu Tätern wurden. Die Bundesbeauftragte gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, Kerstin Claus, fordert deshalb, dass Veranstalter von Kinder- und Jugendreisen künftig Schutzkonzepte vorlegen müssen.

Ohne Aufsicht der Eltern

Es ist wichtig, dass es diesen Schutz gibt. Denn kein Jugendlicher sollte durch Sorge vor sexualisierten Übergriffen von der Erfahrung einer Jugendreise abgehalten werden. Was sich für viele so besonders anfühlt, ist die Möglichkeit, sich ohne Aufsicht der Eltern einmal vollkommen frei zu bewegen. Wie lange halte ich das am Strand ohne Schatten aus? Sind die scheußlichen, glibschigen Wasserschuhe es wert, oder lasse ich mir meine Füße doch lieber von den Steinen zerfetzen?

Vielen Eltern ist nicht klar, wie befreiend es sein kann, auch mal das „Falsche“ anzuziehen, ohne dass es jemand direkt kommentiert. Ja, vielleicht stellt man fest, dass sich Polyacryl bei 32 Grad Celsius tatsächlich nicht schön auf der Haut anfühlt. Und manche Juckreize müssen wirklich einmal gekratzt werden, um zu verstehen, warum das den Juckreiz verschlimmert.

Kein erwachsener Mensch hat je die Liebe von einem Jugendlichen zu seinem lokalen Supermarkt begriffen

Auch kann man auf den Jugendreisen man „sinnlosen“ Aktivitäten nachgehen, für die sich sonst niemand Zeit freiräumen würde. Kein erwachsener Mensch hat je die Liebe von einem Jugendlichen zu seinem lokalen Supermarkt begriffen. Und wenn man den 17 Mal am Tag besuchen will, dann macht das auf der Reise nichts aus.

Diese Experimentierfreude hat natürlich auch ihre Schattenseiten. Vielleicht ist es tatsächlich nicht so schlau, sich den ganzen Tag von abgelaufenen Sandwiches zu ernähren und sich am Abend durch das Cocktailsortiment der Strandbar zu probieren. Die Erfahrungen mancher anderer gehen dabei über einen Abend über dem Klo hinaus. Das hat zuletzt auch die Recherche des SWR gezeigt.

Die BetreuerInnen und wir

Womit wir wieder bei den BetreuerInnen wären. Die sind oft selbst noch jung, auf meiner Jugendreise waren sie kaum älter als wir. Wer unerfahren ist, weiß vielleicht selbst nicht, wann es an der Zeit ist, einzugreifen. Gleichzeitig bieten die Veranstalter den Betreuerinnen nicht viel.

So ging es in der SWR-Geschichte auch um die schlechten Arbeitsbedingungen: Die BetreuerInnen mussten in diesem Fall lange arbeiten, erhielten dafür aber keinen Lohn, sondern nur eine Aufwandsentschädigung von elf Euro. Sie machen die Reise mit, weil sie selbst Spaß haben wollen.

Man könnte jetzt natürlich fordern, dass sie ein richtiges Gehalt bekommen sollen. Aber dann würden auch die Jugendreisen teurer und für weniger Menschen zugänglich. Ein Dilemma.

Ich weiß noch gut, wie wir die Betreuerin Paula auf dem Bootsausflug genau zu ihrem Leben befragt haben und feststellten, wie klein der Sprung von uns zu ihr wirklich ist. Vielleicht hätte Paula im Ernstfall nicht gewusst, was bei einem Quallenstich zu tun ist. Aber sonst wusste Paula sehr viel darüber, wie man aus jeder Situation das Beste macht. Denn noch vier Jahre zuvor hatte Paula selbst bei dieser Jugendreise mitgemacht.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

9 Kommentare

 / 
  • Tja, alles hat zwei Seiten.



    Kinder- und Jugendfreizeiten bieten tolle Möglichkeiten.



    Anderseits müssen, bzw. werden sie auch immer weiteren Regularien unterworfen, die im Kern berechtigt sind, aber.



    So müssen BetreuerInnen heutzutage Schulungen machen, Zertifikate nachweisen, zB awareness bzgl. sexueller Übergriffe. Es müssen Hygiene und Gesundheitszertifikate nachgewiesen werden. Alles von ehrenamtlich tätigen Personen, die für die Betreuung (Teile) ihres Urlaubs opfern. Mit Mindestlohn wäre das das sofortige Aus, da wäre jeder Türkeiurlaub billiger.



    Und alles unter dem Schwert der Eltern, die über die Freiheit der Sprößlinge mit Argusaugen, auch mit Klagen im Nachhinein, wachen und auch Komfort einfordern (gebrauchte Bettwäsche selber abziehen - nie und nimmer).

    Kurz, viele Anbieter, besonders auf ehrenamtliche Arbeit basierende, haben sich schlicht zurückgezogen, bzw. werden von den Eltern nicht mehr nachgefragt. Ende der Freiheit.

  • "Kein erwachsener Mensch hat je die Liebe von einem Jugendlichen zu seinem lokalen Supermarkt begriffen."

    Ich kenne auch keinen Jugendlichen, der sowas begreifen würde. Habe ich selbst damals auch nicht. Ist das nicht einfach diese typische Gammelei, die manche früher "Abhängen" nannten?



    Vermutlich kenne ich einfach nicht viele Menschen in prekärer Wohnsituation oder so...

  • Jugendreise als „betreute Freiheit“ für Kinder von Helikopter-Eltern? Vielleicht als Vorbereitung auf betreute Kreuzfahrten im späteren Leben?

    In meiner Kindheit und Jugend haben wir uns unsere Freiheiten genommen, uns ausprobiert, unsere Grenzen kennen- und auch noch gelernt Verantwortung für unser Handeln zu übernehmen. Dazu haben wir keine Reise und keine BetreuerInnen gebraucht. Unsere Spielplätze waren u.a. der Werkkeller, der nächste Wald oder eine Baustelle und betreut haben wir uns selbst. Mein Bruder hat sich so einmal fast selbst umgebracht, ich mich beinahe amputiert. Es gab auch Ärger mit Nachbarn, dem Bauern oder der Polizei und immer wieder ein Donnerwetter von den Elten. Das alles gehört aber dazu, um die Freiheit und den verantwortlichen Umgang mit ihr zu lernen.

    • @DemokratischeZelleEins:

      Das klingt bei Ihnen nach einer Kindheit auf dem Land. Definitiv ein Pluspunkt: Man hat Platz, man weiß immer, wo man irgendwo etwas leihen kann, der Nachbar gabelt einen nachts auf der Landstraße auf und die Vereine machen eh alle mind. eine Fahrt pro Jahr mit den Jugendabteilungen.



      Ich vermute aber mal, dass die besagten Jugendreisen fast ausschließlich von Städtern gebucht werden.

      • @Heike 1975:

        Ich bin in einer Kleinstadt mit 40.000 Einwohnern aufgewachsen. Wir haben einfach immer wieder die Grenzen ausgetestet und wollten uns auch nicht von irgendeinem Fähnlein Fieselschweif oder anderen BetreuerInnen als Elternersatz Vorschriften machen lassen. Selbstendeckendes Lernen würde man das heute nennen.

        @Jazzy : Jugendreisen gab es schon vor über 100 Jahren und besonders beliebt waren sie schon immer bei allen, die wie die NSDAP, Jugend organisieren und erziehen wollten.

        • @DemokratischeZelleEins:

          Die Nazis haben gute Ideen missbraucht... Gut, dass Sie darauf hinweisen. Und doch gilt: Missbrauch hebt den Gebrauch nicht auf.

    • @DemokratischeZelleEins:

      Jugendfreizeiten gab es schon vor über 50 Jahren, ich war dabei. Halt nicht nach Spanien. Mit Helikopter Eltern hat das nichts zu tun.

  • Warum muss das heute alles so organisiert sein braucht man immer kommerzielle Angebote mit irgendwelchen Coaches die einem die "Erfahrungen" vorkauen?



    Mit dem Fahrrad zum Zelten, Interrail oder 14 Tage sturmfrei während die Eltern in Urlaub sind. Alles ohne dauernde Erreichbarkeit, Kommunikation über Telefonzelle und Postkarten.

    • @Axel Schäfer:

      „Die heutige Jugend ist von Grund auf verdorben, sie ist böse, gottlos und faul. Sie wird niemals so sein wie die Jugend vorher, und es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur zu erhalten“

      Gefunden hier: 5000 Jahre Kritik an Jugendlichen – Eine sichere Konstante in Gesellschaft und Arbeitswelt (bildungswissenscha...-und-arbeitswelt/)