Pirat Delius über Berliner Politik: „Das revolutionäre Element fehlt“
Die Berliner Piraten-Fraktion bereitet sich auf das Ende ihrer Arbeit vor, sagt ihr Chef Martin Delius – und zieht eine düstere Bilanz der politischen Kultur der Stadt.
taz: Herr Delius, ist das nun das Abschiedsgespräch mit Ihnen?
Martin Delius: Eher nicht. Die taz wird wohl hoffentlich auch in den nächsten Monaten noch Interesse an der Piratenfraktion haben.
Vielleicht in den nächsten Monaten, aber nach der Abgeordnetenhauswahl in wenig mehr als einem Jahr wird es wohl keine Piratenfraktion mehr geben.
Ja, wir als Fraktion bereiten uns jetzt schon darauf vor, dass es nach der Wahl nicht mehr weiter geht.
Bei der Wahl 2011 holten die Piraten 8,9 Prozent und zogen mit 15 Abgeordneten ins Landesparlament ein – zum ersten Mal überhaupt in Deutschland.
Die Auflösungserscheinungen innerhalb der Bundespartei hatten auch Folgen für die Fraktion: Die Abgeordneten Oliver Höfinghoff, Christopher Lauer und Simon Weiß verließen im September 2014 die Partei, sind aber weiterhin Teil der Fraktion. In Umfragewerten sanken die Piraten auch in Berlin deutlich unter die 5-Prozent-Marke.
Am Wochenende findet der nächste Bundesparteitag der Piraten in Würzburg statt. (bis)
Wie halten Sie als Fraktionschef unter diesen Umständen eine 15-köpfige Mannschaft zusammen, die wissen muss, dass ihre Arbeitsplätze in einem Jahr weg sind? Schauen sich nicht die ersten schon nach einem neuen Job um?
Dass sich jeder umschaut, ist nur natürlich. Es ist ja auch nur ein Halbtagsparlament: Insofern hat jeder Abgeordnete die Möglichkeit, einen anderen Job zu haben.
Wie viele von ihren 15 Fraktionsmitgliedern haben denn einen Nebenjob?
Das weiß ich ehrlich gesagt gar nicht. Das kann man auf den Web-Seiten der Piratenfraktion nachgucken. Und was die Motivation betrifft: Da hat die Fraktion Angebote an jeden gemacht, der sich motiviert fühlt. Wir haben die gut laufenden Projekte „Fahrscheinloser Nahverkehr“ und den Untersuchungsausschuss Staatsoper. Wir kümmern uns sogar auch um Tierschutz, was bislang nicht unser Markenkern war.
31, ist seit Mai 2014 Fraktionschef der Piraten im Abgeordnetenhaus, zusammen mit Alexander Spies. Seit Oktober 2012 ist er Vorsitzender des BER-Untersuchungsausschusses
Als Oppositionsfraktion hat man ein Jahr vor der Wahl aber nicht mehr viel zu melden. Da geht es nicht um inhaltliche Angebote, sondern darum, sich darauf vorzubereiten, in der nächsten Legislaturperiode eine ordentliche Ausgangsposition zu haben.
Das sehe ich anders. Es ist nicht Aufgabe der Opposition, inhaltliche Angebote zu machen – das müssen die Regierungsfraktionen machen. Doch das passiert nicht, weil die Koalition von SPD und CDU kaputt ist.
Und was ist Aufgabe der Opposition?
Kritik zu üben, laut Kritik zu üben. Nachzufragen, Informationen offen zu legen, die sonst im Dunkeln blieben. Das werden wir auch 2016 machen – und das wird sogar noch einfacher, weil wir als Piratenfraktion nicht mehr in Wahlkampfrhetorik verfallen oder Regierung im Wartestand spielen müssen wie andere.
Keine Wahlkampfrhetorik? Sie wollen gar keinen Wahlkampf machen?
Die Fraktion macht natürlich keinen Wahlkampf.
Dass Fraktionsgelder nicht direkt in Parteiwerbung fließen dürfen, sagt das Gesetz. Aber jeder Abgeordnete, der die Farben einer Partei trägt, macht doch per se Wahlkampf für seine Partei, die ihn ins Parlament gebracht hat.
Das ist nicht die Aufgabe eines Parlamentariers.
Wie viele Mitglieder Ihrer Fraktion gehören überhaupt noch der Piratenpartei an?
Das weiß ich nicht.
Das glauben wir nicht.
Das müssen Sie mir aber glauben. Das fragen wir auch nicht ab, das ist auch nicht relevant.
Ist denn die Partei noch relevant?
Es existieren weiterhin Arbeitsgruppen zwischen Fraktion und Partei, einzelne sind relevanter als andere. Die Piratenpartei hat immer gesagt, bei uns darf jeder mitmachen, egal ob er ein Parteibuch hat oder nicht. Parteitagsbeschlüsse sind auch weiterhin relevant. Man muss aber sagen: Die Fraktion ist für sich ein autonomes, demokratisch organisiertes Gremium, das zu allererst mal ihre eigenen Beschlüsse fassen muss.
Am Wochenende ist Bundesparteitag der Piraten: Fahren Sie überhaupt noch hin?
Ich fahre nicht hin, weil ich zu dieser Zeit im Urlaub bin.
Was ist eigentlich bei den Piraten im Kern falsch gelaufen, dass es die enge Verzahnung zwischen Partei und Fraktion nicht mehr gibt?
Ich bin kein Politikwissenschaftler, und ich habe auch nicht Zeit, mich mit Aufstieg und Fall der Piratenpartei zu beschäftigen. Diese Frage sollten Sie jemandem stellen, der am OSI [Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften der FU Berlin – Anm. d. Red.] arbeitet.
Ist es denn Ihr Ziel, über 2016 hinaus in der Politik zu sein?
Nein.
Kein Interesse?
Ich habe daran Interesse, aber das ist nicht mein Ziel. Das würde ja bedeuten, dass ich, um meine Ziel zu erreichen, mich mehr verbiegen müsste, als ich will. Mein Ziel ist es, 2016 die Arbeit, die ich angefangen habe, gut zu beenden, und Dinge zu hinterlassen, die mit dem Namen Piratenfraktion oder Delius verbunden sind. Darüber hinaus lege ich mich nicht auf eine Politikerkarriere fest und glaube auch nicht, dass man das tun sollte.
War die Arbeit so anstrengend?
Nein, aber die Situation ist wie sie ist.
Es geht auch anders: Der frühere FDP-Abgeordnete Rainer-Michael Lehmann hat es vor der vergangenen Wahl über einen Wechsel zur SPD geschafft, im Parlament zu bleiben. Kein Interesse, ebenfalls zu wechseln?
Nein, kein Interesse.
Sie haben einen Text für den Tagesspiegel geschrieben, den man als Bewerbungsschreiben für die CDU interpretieren könnte. Er klingt in etwa so: „Ich bin angekommen in meinem Kiez; ich bin nicht mehr rebellisch, sondern urban.“
Finden Sie?
Ja, das klingt alles schon sehr saturiert.
Das ist ja auch so. Ich bin 31, ich bin Familienvater, ich wohne in Wilmersdorf – was viele Leute beim Lesen des Textes nicht verstanden haben: Es sollte auch ein Aufruf an alle sein, den Ball flachzuhalten und die wichtigen stadtpolitischen Diskussionen – Stadtentwicklung, Infrastruktur, soziale Durchmischung – erwachsener anzugehen, statt sie wie jetzt eskalieren zu lassen.
Das klingt etwas naiv. Wieviel von diesem Nehmt-Euch-mal-nicht-so-wichtig konnte die Piratenfraktion in den Politikalltag transportieren?
Die Frage, ob ein Dialogverfahren gestartet wird, die stellt sich nicht mehr – und das ist unser Verdienst. Die Frage ist nur noch, wann und wie die Beteiligung abläuft. Was noch nicht passiert, ist Transparenz über das eigene Vorgehen der Verwaltung und echte Verbindlichkeit für solche Dialogverfahren.
Das ist das Vermächtnis der Piraten?
Dazu haben wir unseren Teil beigetragen.
Eines Ihrer großen Ziele in dieser Wahlperiode war ja der kostenlose Nahverkehr …
Nein, das stimmt nicht. Von kostenlos haben wir nicht geredet.
Im Wahlkampf schon.
Auch da nicht.
Im Ergebnis liegt nun die Studie der Piraten zum „ticketlosen Nahverkehr“ vor: Ihr Modell verpflichtet jeden, einen Beitrag zwischen 40 und 60 Euro dafür zu zahlen, egal ob er Bus oder Bahn nutzt oder nicht. Ist das gerecht?
Ja, wenn man sich anschaut, was jetzt jede und jeder einzelne indirekt für die Straße oder den Schienenverkehr zahlt. Wir wollen das transparenter gestalten. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren wollen wir gar nicht belasten. Das konkrete Umsetzungskonzept kommt übrigens noch.
Bei der Linksfraktion kostet es nur die Hälfte.
Da kostet es noch gar nichts, weil ich noch gar kein Konzept gesehen habe.
Dafür wurde es aber schon breit diskutiert.
Irgendwo werden wir uns in der Mitte treffen. Interessant ist ja auch, dass wir 2012 für unseren Vorschlag noch ausgelacht worden sind. Da haben wir als kleinste Oppositionsfraktion viel erreicht.
Lassen Sie uns zum BER kommen: Seit drei Jahren leiten sie den Untersuchungsausschuss des Parlaments. Glauben Sie wirklich, dass der Flughafen Ende 2017 öffnet?
(Lange Pause) Ja.
Warum?
Der Plan für 2017 ist eine Minimallösung, damit das Ding endlich ans Netz gehen kann – auch, weil die Baugenehmigungen auslaufen. Der Plan ist sehr knapp, Unvorhergesehenes ist nicht vorgesehen. Es wird aber auf jeden Fall wesentlich mehr Geld kosten als bisher eingerechnet.
Über den erneuten aktuellen Nachschlag hinaus, der erst noch mit dem Haushalt beschlossen werden muss?
Ja, das ist ja schon angekündigt worden. Nicht nur für die notwendige Kapazitätserweiterung, sondern auch für begleitende Maßnahmen, etwa den Umzug, der sich ja über Wochen hinziehen soll. Kurzum: Die Eröffnung 2017 kann gelingen, aber damit ist das Problem BER noch nicht gelöst. Da gibt es immer noch das Problem der Wirtschaftlichkeit dieses kaputten Flughafens, der Umweltverträglichkeit, des Schallschutzes. Der BER wird uns als Zuschussempfänger erhalten bleiben.
Sie haben als Ausschussvorsitzender tiefe Einblicke bekommen, wie Landespolitik in der Stadt abläuft. Wie sieht ihr Resümee aus?
Politische Konsequenzen werden schlicht nicht gezogen, etwa was die Gesetzgebung angeht. Wir steuern ungebremst auf den nächsten Skandal zu, den nächsten BER, die nächste Elbphilharmonie. Es ist angesichts der langen Regierungsbeteiligung völlig klar, dass es die SPD war, die das Projekt durch Desinteresse an die Wand gefahren hat. Doch die SPD wird trotzdem wieder gewählt werden.
Warum?
Das ist eine gute Frage, auf die ich keine Antwort habe. Das wundert mich auch, schockieren tut’s mich jedoch nicht mehr. Ich glaube, es hat ganz viel mit einer Mentalität der Berlinerinnen und Berliner zu tun, am ehesten zufrieden zu sein, wenn sie von der Politik in Ruhe gelassen werden. Und das ist es vielleicht, was sie von der SPD am ehesten bekommen.
Die Piraten waren also mit ihren ganzen Forderungen nach Bürgerbeteiligung die völlig falsche Partei für diese Stadt?
Für die Mehrheit stimmt das. Aber die Mehrheit war ja für uns als junge Partei auch nicht das Ziel. Eine Minderheit wählt unorthodox und will Veränderungen. Das revolutionäre Element, das man für eine Mehrheit bräuchte, das fehlt auch in Berlin.
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