Philosoph über die Liebe: „Niemand kann alles sein“
Kann man die Liebe halten? Schwierig, sagt der Philosoph Alain de Botton. Nur, wenn wir uns von den üblichen Plattitüden befreien. Ein Gespräch.
sonntaz: Herr de Botton, einige Ihrer Kollegen hier in Deutschland schreiben, die Liebe sei am Ende. Glauben Sie das auch?
Alain de Botton: Natürlich nicht. Liebe ist nichts, das wir einfach so ablegen können wie das iPad vom letzten Jahr. Wir sind darauf gepolt, Liebe nötig zu haben. Als Kleinkinder haben wir Liebe zum Überleben gebraucht und als Erwachsene brauchen wir sie weiterhin. Sigmund Freud, einer der größten deutschsprachigen Psychologen und Schriftsteller, hat das bestens verstanden.
So sehr wir die Liebe brauchen, so oft scheitern wir aber auch daran, sie in Beziehungen zu bewahren. Müssen wir sie neu erfinden?
Sie verwechseln die Überlegung, dass Liebe schwierig ist, mit der Überlegung, sie abschaffen zu müssen, als wäre sie irgendeine problembehaftete Situation. Aber wie der Tod ist sie einfach Teil des Menschen. Wir können sie also nicht aufgeben. Wir müssen lernen, mit ihr klarzukommen. Und was wir wirklich lernen müssen, ist, wie man liebt.
Wissen wir das nicht längst?
43, geboren in Zürich, ist Philosoph und Autor der Bücher "Wie Proust Ihr Leben verändern kann" und "Wie man richtig an Sex denkt". Er lebt mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen in London.
Wir denken, wir seien fähig zu lieben, ohne je gelernt zu haben, wie das geht. Genauso wenig, wie wir von uns erwarten, aus reiner Intuition zu wissen, wie man ein Flugzeug landet oder eine chirurgische Operation durchführt, sollten wir aber erwarten, zu wissen, wie man miteinander lebt.
Warum denken wir, wir könnten das einfach: lieben?
Unsere Unlust, zu üben, wie man liebt, könnte an unserer ersten Erfahrung mit Gefühlen liegen.
Dieses Interview ist Teil der Titelgeschichte „Müssen wir die Liebe neu erfinden?“ und stammt aus der neuen taz.am wochenende vom 20./21. April. Mit großen Reportagen, spannenden Geschichten und den entscheidenden kleinen Nebensachen. Mit dem, was aus der Woche bleibt und dem, was in der nächsten kommt. In der ersten Ausgabe lesen Sie auch ein Porträt der grünen Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt und ein Gespräch mit dem FAZ-Herausgeber und Bestseller-Autor Frank Schirrmacher. Und jetzt auch mit Hausbesuch: die taz klingelt mal in Raubling.
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Nämlich welcher?
Stellen wir uns vor, wir sind vier Monate alt, in einem Hochstuhl, sabbernd, wir hämmern mit dem Löffel auf dem Küchentisch und unsere Mutter streichelt uns den Kopf. Sie ist dabei natürlich nur höflich. Sie stellt sich nett, um uns durchs Leben zu bringen. Die Grimassen mit unseren Spuckbläschen sind gar nicht so lustig. Sie muss noch einen Berg Wäsche waschen. Sie hat einen Mann, viele Freunde, viele Interessen. Sie will ihr Buch fertiglesen. Sie will um die Ecke einen Kaffee bestellen und ein Nusscroissant. Ein-, zweimal, zutiefst erschöpft von uns, ist sie sogar hoch in ihr Schlafzimmer, um sich und ihrem verheulten Kissen zu gestehen, dass wir ihr Leben ruiniert haben.
Das heißt?
Wir wurden von Menschen geliebt, die all die Arbeit, die sie damit hatten, uns zu lieben, versteckt haben. Von Menschen, die ihre Ängste und Bedürfnisse nicht gezeigt haben und in gewissem Sinn besser darin waren, Eltern zu sein, als Liebende. Sie haben - mit guten Absichten natürlich - eine Illusion und ihre komplizierten Folgen geschaffen: Uns nicht vorbereitet auf die ganze Mühe, die jede gute erwachsene Beziehung kostet.
Wie liebt man denn richtig?
Erwachsene Liebe sollte sich nicht daran erinnern, wie es für uns als Kind war, geliebt zu werden. Sie sollte sich vorstellen, wie es für unsere Eltern war, uns zu lieben.
Glauben Sie, Seitensprünge sind natürlich?
Die Gesellschaft empfiehlt, mit unkontrollierter Rage und Wutausbrüchen auf einen Partner zu reagieren, besitzt der die Kühnheit, sich vorzustellen - nicht davon zu reden, es sogar in die Tat umzusetzen -, dass es interessant sein könnte, jemanden - an die Wand eines Hotels, Büros oder fahrenden Zuges gedrückt - zu küssen und dabei die Hand in einen fremden Rock oder eine fremde Hose zu schieben. Ein Ehepartner, der in Zorn gerät, weil er betrogen wurde, verschließt die Augen vor einer fundamentalen, tragischen Wahrheit: Niemand kann für einen anderen alles sein.
Wenn einer allein es nicht kann: Wäre es dann nicht ehrlicher, mit mehreren Partnern zu leben - oder in einer offenen Beziehung?
Frustration lässt immer wieder den Wunsch nach einer utopischen Lösung aufkeimen. Vielleicht, so denken wir, klappt es ja mit einer offenen Ehe? Oder mit einer Strategie der Geheimhaltung. Oder damit, dass wir die Abmachung mit unserem Partner jedes Jahr neu aushandeln. Oder mehr Kinderbetreuung.
Solche Ansätze sind also utopisch?
Allen diesen Strategien ist das Scheitern vorherbestimmt, und zwar aus dem einfachen Grund, dass sie alle von Anfang an von den Beteiligten verlangen, Abstriche zu machen.
Welche denn?
Wenn wir ständig Affären haben, setzen wir die Liebe unseres Partners und die psychische Gesundheit unserer Kinder aufs Spiel. Wenn wir auf Affären verzichten, werden wir fade und versäumen das Aufregende neuer Beziehungen. Wenn wir heimlich eine Affäre haben, wird uns das innerlich zerfressen und unsere Fähigkeit, Liebe zu empfangen, verkümmern lassen. Wenn wir zugeben, untreu gewesen zu sein, wird unser Partner in Panik geraten und nie über unsere sexuellen Abenteuer hinwegkommen, auch wenn sie uns gar nichts bedeutet haben. Wenn wir unsere ganze Kraft auf unsere Kinder konzentrieren, verlassen sie uns schließlich doch, um ihr eigenes Leben zu führen, und wir bleiben unglücklich und einsam zurück.
Das klingt wie ein Plädoyer gegen Ehen und Beziehungen.
Die Ehe ähnelt in gewisser Weise einem Bettlaken, das wir niemals ganz glatt bekommen: Wenn wir an der einen Seite ziehen oder es glatt streichen, kann es passieren, dass wir an der anderen nur neue Falten und Unordnung produzieren.
Wer keine Falten will, heiratet besser nicht?
Es gibt keine Lösung für die Spannungen, die in einer Ehe auftreten, falls wir mit "Lösung" eine Regelung meinen, bei der keiner Einbußen hinnehmen muss und bei der wir alles Positive, das uns am Herzen liegt, und alles andere gleichzeitig haben können, ohne dass eins davon Schaden verursacht oder Schaden nimmt. Welche Versprechen sollten wir also mit unserem Partner tauschen, wenn wir eine echte Chance auf gegenseitige Treue haben wollen?
Gute Frage. Was schlagen Sie vor?
Wesentlich mehr Vorsicht und Skepsis anstelle der üblichen Plattitüden wäre wohl angebracht. Man könnte zum Beispiel sagen: Ich verspreche, von dir und nur von dir enttäuscht zu sein. Ich verspreche, meinen ganzen Kummer bei dir abzuladen, anstatt ihn durch ständige Affären und ein Leben als Don Juan auf viele Stellen zu verteilen. Ich habe die verschiedenen Möglichkeiten, unglücklich zu werden, genau geprüft - und mich dafür entschieden, es mit dir zu versuchen.
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