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Philosoph über Wahnsinn in der Vernunft„Wahnsinn ist kein Problem“

Daniel Strassberg zeigt, wie sich das Irrationale immer schon mitten in der Vernunft aufhält. Viele Philosophen sind selbst einem wahnsinnigen Denken verfallen.

Ausstelllung über Kunst und den Wahnsinn. Bild: dpa
Interview von Peter Schneider

sonntaz: Herr Strassberg, wie kommen Sie auf den Befund, dass der Wahnsinn mitten in der philosophischen Vernunft lauert und nicht etwa nur deren „andere Seite“ darstellt?

Daniel Strassberg: Zunächst war da die Beobachtung, dass der Wahn psychotischer Patienten oft in geradezu irritierender Weise vernünftig ist. Sie sind gar nicht verwirrt, sondern hypervernünftig. Als ich dann mich damit zu beschäftigen begann, wie Philosophen über den Wahnsinn schreiben, ist mir aufgefallen, dass sie selbst einem Denken verfallen, das nach ihrer eigenen Definition wahnsinnig wäre. Der junge Kant definiert zum Beispiel den Wahnsinn als Produkt der schöpferischen Einbildungskraft, dem äußere Realität zugesprochen wird. Wenn man dann seine Vernunftbegriffe Gott, Freiheit und Unsterblichkeit untersucht, auf denen sein philosophisches Gebäude aufgebaut ist, stellt man fest, dass sie genau dieser Definition entsprechen. Mitten in seiner rationalen Philosophie tauchen also an zentraler Stelle wahnsinnige Begriffe auf – selbst nach seiner eigenen Bestimmung.

Die Vernunft wäre damit von der Krankheit befallen, für deren Therapie sie sich hält?

Mit Diagnosen, wie es um die Vernunft bestellt ist, wäre ich vorsichtig. Ich bin nicht sicher, ob es die Vernunft gibt oder nicht viel eher viele Autoren, die alle durchaus vernünftig denken, aber in unterschiedlicher Weise. Ich habe nur Autoren untersucht, die in irgendeiner Weise mit dem Wahnsinn zu tun haben, entweder als Thema ihrer Philosophie oder weil sie selbst wahnsinnig geworden sind. Und auch da ist die Behauptung, ihr Denken sei vom Wahnsinn befallen, zu einfach. Vielmehr zeigte sich ein Bemühen, den Wahnsinn aus ihrem Denken auszuschließen. Doch meist schleicht er sich unbemerkt durch einen Hintereingang wieder ins Denken ein. Man könnte also sagen, ein Motor ihres Denkens ist die Bewegung von Ausschluss und Einschluss.

Wie verallgemeinerbar ist diese Bewegung? Gibt es ein Denken, dass sich nicht um das Problem des Ein- und Ausschlusses des Wahns herumzuschlagen hat?

Das ist eine schwierige Frage. Es kommt darauf an, wie hoch man den Begriff des Denkens hängt. Auch jemand, der sich zu einer guten Staatsform, zu ethischen Fragen oder zu Problemen äußert, denkt. Aber ein Denken, das auf das Ganze geht, hat sich wohl mit dem Wahnsinn herumzuschlagen.

Im Interview: Daniel Strassberg

arbeitet als Psychoanalytiker und Philosoph in Zürich. Sein Buch „Der Wahnsinn der Philosophie. Verrückte Vernunft von Platon bis Deleuze“ ist gerade im Chronos Verlag, Zürich, erschienen (416 Seiten, 47,50 Euro). Am 24. Januar wurde ihm der mit 5.000 Franken dotierte „Missing Link“-Preis des Psychoanalytischen Seminars Zürich verliehen.

Was ist das für ein Denken?

Seit jeher versucht die Philosophie die Ordnung der Welt als Ganzes zu begreifen: Nach welchen Prinzipien ist sie aufgebaut, wie funktioniert sie? Eine Ordnung herzustellen, heißt immer, Grenzen zu ziehen und damit etwas auszuschließen. Jeder, der sein Zimmer aufräumt, weiß dass man keine Ordnung hinkriegt, wenn man nicht etwas fortwirft. Sobald man aber etwas fortwirft, hat man nicht mehr alles im Blick. Das Denken ist somit zwischen der Ordnung und dem Alles, zwischen der Totalität und der Unendlichkeit, wie das der französische Philosoph Emmanuel Lévinas nennt, hin und her gerissen. An dieser Stelle kommt der Wahnsinn ins Spiel, als Versuch zugleich Ordnung herzustellen und alles zu denken.

Ist die historische Tendenz weg vom System hin zur Behandlung von einzelnen Problemen die Selbsttherapie der Philosophie?

Tatsächlich ist die Zeit der großen philosophischen Systeme passé. Und damit ist auch der Wahnsinn kein philosophisches Problem mehr. Er wird heute praktisch nur noch unter neurobiologischen Gesichtspunkten verhandelt. Selbst die Psychoanalyse hat sich von der Behandlung psychotischer Patienten und Patientinnen verabschiedet. Allerdings kann man den Abschied vom Wahnsinn auch anders verstehen. Vielleicht ist er kein Problem mehr, weil er ganz in der Philosophie angekommen ist.

Wie meinen Sie das?

Was früher als Wahnsinn ausgeschlossen wurde, hat sich heute im Denken verwirklicht. Nur ein Beispiel: Dass Zeichen nicht auf Dinge verweisen, sondern nur auf andere Zeichen, galt früher als Kennzeichnung des Wahnsinns. Seit der Postmoderne ist aber die Vorstellung eines Zeichennetzes, das die Welt nicht abbildet, sondern erst erschafft, eine Grundeinsicht vieler Philosophen und Philosophinnen. Deshalb konnte Gilles Deleuze das schizophrene Denken als Vorbild für ein neues, netzartiges Denken nehmen.

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19 Kommentare

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  • 6G
    688 (Profil gelöscht)

    "Seit jeher versucht die Philosophie die Ordnung der Welt als Ganzes zu begreifen: ..."

     

    Soeinquatsch :-) Seit der "Vertreibung aus dem Paradies", was unser erster und bisher einzige GEISTIGE Evolutionssprung (Mutation) ist, spaltet Mensch sich und seinen (UN-)Verstand der Welt- und "Werteordnung", zu "Individualbewußtsein" und bewegt sich damit zeitgeistlich im geistigen Stillstand des "gesunden" Konkurrenzdenkens im NUN "freiheitlichen" Wettbewerb um ... - Vernunft, Freiheit, Wahrheit, sind dabei systemrational in der Technokratie verkommen, zu Stumpf-, Blöd-, Schwach- und Wahnsinn!!!

     

    Die zeitgenössischen Philosophen taugen wenig bis nichts - wenn man die Konfusion in Überproduktion von systemrationalem Kommunikationsmüll mal ausnimmt ;-)

  • 6G
    688 (Profil gelöscht)

    "Ich bin nicht sicher, ob es die Vernunft gibt oder nicht viel eher viele Autoren, die alle durchaus vernünftig denken, aber in unterschiedlicher Weise."

     

    Da kannst du aber sowas von sicher sein - In dieser systemrational-konfusen Realität von GEBILDETER Suppenkaspermentalität auf Sündenbocksuche (Staat & Kirchen), wo auch viele unterschiedliche / "individualbewußte" Wahrheiten definiert werden, da ist unsere Vernunftbegabung als Mensch multischizophren gespalten - und der Verstand geht in der konsum- und profitautistischen Überproduktion von zeitgeistlich-kreislaufendem Kommunikationsmüll spazieren :-)

    • C
      cosmopol
      @688 (Profil gelöscht):

      Du hast weder einen Begriff von Schizophrenie, noch von Autismus. Beide sind hier als Synonym untauglich, die Verwendung als solches ist für Betroffene dieser Phänomene mitunter diskriminierend. Lass es!

    • 6G
      688 (Profil gelöscht)
      @688 (Profil gelöscht):

      "Aber ein Denken, das auf das Ganze geht, hat sich wohl mit dem Wahnsinn herumzuschlagen."

       

      Oh Mann ja, aber vor allem mit dem Stumpf-, Blöd- und Schwachsinn um sich herum :-)

  • "`wahnsin ist beim einzelnen die ausnahme, bei völkern, zeiten, gruppen dire regel"' (Nietzsche)

    Esist ein "`mikrro-meso-makro"' und "`herrschaftsaproblem"' - normalsierung, disziplinierung, kontrolle werden mit "`vernunft"' verwechselt, weil "`völker und gruppen"' die definitionsmacht über wahnsinn und vernunft haben.

     

    daas scheint dem autor leider nicht aufgegangen zu sein an der krtikk.dsas rhizom,model der mathermsatischrn mannigfaltigkeut, istschon konstruktividtoyscvh "`wahrer"' begriff des bilde des denkens,wobei, getreu der eingangsdefinition die"'mathemtik"' als "gruppenprodukt" "`verrücktwerdend"' beschrieben wird, obwohl sie mit wirklich extrem riesigem abstand milliarden von potenzen "`vernünftger"' ist ("die schrift quantfizieren!!!"') als alles, was fast "`sonst so"' metsaphororisiert wird. riemanns mannifaltigkeitrsbegriff schlägt alle philosphischen universalienprobleme...

     

    verückt im falsch definierten sinne

    die aufgabe der "`resingularisierung"' zur "`befreiunng"' unterstreicht das eingangs zitat nochmal.

     

    baudrillard hat die sich auch."'die soziale dichte,doe unms alle zermalmt"' - im kopf,durch die unmengen

    von begriffen,.metsaphern, ZEICHEN,...

     

    dabei war baudrillsrd ein todfeind von deleuze und foucault ("`oublier foucault"'), nicht vergessen ..

    nachden er sich den simulacrabegriff von deleuze "`angeeignet"' hatte

     

    nur als indiz, dass es nicht die poststrukturelle krtik ist - die kritisiert die vernunft gar nicht sehr, im gegenteil. DER ABSOLUTE RATIONALIST spinoza ist DER richtige denker, deleuzegerdezu orthodoxer spinozist.. DER SIEGREICHE (VERNÜNFTIGE BERGIFf DER KRAFT...(NIETZSACHE) die vernünftige wissenschaf wird sehr viel aktzeptiert und affirmativ zitiert. sie ist sehr viel besser, als die konkrete begriffe des brutalen alltagsstreibens(mehrfachbedeutung).

    • 6G
      688 (Profil gelöscht)
      @Dr. rer. nat. Harald Wenk:

      "... weil "`völker und gruppen"' die definitionsmacht über wahnsinn und vernunft haben."

       

      Ja sehr richtig, deshalb ist es sehr wohl ein Problem den zeitgeistlich-kreislaufenden Wahnsinn derart zu verharmlosen - "Wahnsinn in der Vernunft", das ist ein großes Problem des massen(UN)bewußten Faschismus von "Individualbewußt"-gebildeter Suppenkaspermentalität auf Sündenbocksuche und anderen Ablenkungen!

    • @Dr. rer. nat. Harald Wenk:

      der wahnsinn (der völker, zeiten gruppeen - hier besonders der der psychiater und ärtzte) ist ganz imgenteil ein RIESIGES problem, weil er sogar mit der kategoriue ein regelrechtes massenmordtreiben und chemischesgehirnamputationbetrieb sowioeeine totalentfremdung von aller natürlichen psychologie mit sich bringt - unter anderem. IN DER PRAXIS!!

  • "Deshalb konnte Gilles Deleuze das schizophrene Denken als Vorbild für ein neues, netzartiges Denken nehmen."

     

    Joouh , damit kennen sich Psychoanalytiker ja von je aus : mit dem "netzartigen Denken" , also dem "Denken" in der endlosen Fläche und Breite , ohne Anfang und Ende , Denken als Selbstentmächtigung seiner selbst , das postdemokratische 'anything goes !'

    Gegen solche "Philosophen" ist auch nach dem heutigen Stand neurologischer Erkenntnisse und dem dazu stimmigen Endpunkt von Philosophie , dem Konstruktivismus , an der Aufgabe nachdrücklichen Denkens festzuhalten . Nietzsche hat diese in ein paar Zeilen seines Gedichtes 'Nachtlied' (im Zarathustra) für ewig festgehalten :

    "...Weh spricht : Vergeh !

    Doch alle Lust will Ewigkeit ,

    will tiefe ,tiefe Ewigkeit ."

     

    Denken , das aus den selbstgedichteten Begriffshimmeln auf die Erde herutergestiegen ist , hat zuerst die Aufgabe , Leiden abzuschaffen . Und das ist wahrlich auf Jahrhunderte hinaus genug ...

  • I
    Irgenwer

    Das Ignorieren der Zusammenhänge verzerrt die Wahrnehmung. Denkprozesse sind immer logisch, aber sie haben einen Auslöser, und das ist der Charakter. Der Charakter legt die Richtung der Denkprozesse fest, und diese sind logische Ergebnisse zu dem Zweck, den Charakter zu verwirklichen. Wenn wir Unlogig bzw. den in Denkprozessen vermuteten Wahnsinn orten wollen, dann müssen wir im Charakter der Menschen suchen.

  • wer nicht verwirrt ist, ist nicht normal..,

    • @tomas:

      Wer sich nicht verwirren lässt, ist verdächtig etwas zu tun was nicht normal ist?

  • K
    kuhn

    soll wirklich privates in der absolutheit politisch werden??? jeder von jedem umd alles überall, jederzeit, jeder mensch kommt irgendwann in die medien und so weiter...zeitungen schreiben dann nur noch privates....

     

    wie wird mit privatem dann umgegangen. soll das ziel wirklich sein, den menschen für immer und ewig zu speichern?

     

    somit auch in granit zu meißeln, in einer persönlichen cloud?

     

    ein solches kann nicht gut sein.

     

    der datenschutz wird in den "müll" gekippt, weil datenschutz nicht mehr zeitaktuell ist, irgendwie ist datenschutz aus der mode gekommen, scheint es mir. ich habe dazu beigetragen, indem ich über andere menschen gesprochen, geschrieben habe.

     

    schlimm, was ich heute am telefon gesagt habe, von dem einen menschen, kann ich nicht mehr zurücknehmen.

  • T
    Tzirp

    Schonmal was von "Dialektik der Aufklärung" gehört? Ist noch ganz neu, kann man ja mal verpassen...

  • K
    Kuhn

    bitte geht, und verlasst mich, ich will meine privatssphäre, ich will einfach nur alleine sein, mehr nicht. damit sind alle gemeint, ich will alleine sein.

  • "Das Ganze ist das Unwahre." T.W.Adorno

    • @Udo Riechmann:

      Und schmerzt mitunter deutlich wenn man davor läuft...

  • L
    Lo

    Sehr interessant, aber lassen sich die überwundenen suggestiven Denkzwänge in philosophisch wertvolle Erkenntnisse umwandeln?

    • @Lo:

      Bitteschön:

       

      Wahnsinnig sind wir alle, war das nicht eigentlich bekannt? Der Grund dafür ist ganz einfach. Die Tatsache dass wir zu wenig Informationen verarbeiten können und Teilweise nicht einmal Zugriff darauf haben. Das Universum tut uns nicht den Gefallen oben und unten zu präsentieren. Das sind wir, die Dinge die aus unserer prinzipiellen Unfähigkeit entstehen, unsere Sicht auf das Lokale, unsere Krücke, unser Wahnsinn. Wir haben die Möglichkeit Prinzipien zu erkennen, weil diese noch in unserem "Ausschnitt" real sichtbar aber auch scheinbar sind, da das Erkennen von Prinzipien logischer Weise eine Reduktion der Wahrnehmung darstellt, sie "Wahrnehmungs-Daten" gewichtet zusammenfasst. Wenn man Prinzipien benutzen möchte um etwas zu erreichen, kann man natürlich auch Gewichtungen instrumentalisieren. Jetzt kommt die Aufklärung. Tschingbum. Die Tatsache von Reproduzierbarkeit einiger Vorgänge, die reale Kategoriesierbarkeit von Elementen die sich verbinden können und unter gleichen Bedingungen feste Eigenschaften besitzen, ist eine wertvolle Erkenntnis, ermöglicht Technischen Fortschritt und Abtrennung der Menschheit von realen Bedingungen auf diesem Planeten ohne diese Entwicklung. Kann natürlich auch wieder Wahnsinn sein, wenn man nicht sinnig vorgeht und keine großartigen irgendwie gearteten Bemühungen unternimmt durch längeres Nachdenken Folgen vorauszuahnen. usw.