Philosoph über Olympia-Bewerbung: „Es gab berechtigte Zweifel“
Das Hamburger Olympia-Referendum war vorbildlich, sagt der Philosoph Stefan Gosepath.
taz: Herr Gosepath, am vergangenen Wochenende votierte Hamburg mehrheitlich gegen eine Bewerbung um die Olympischen Spiele 2024. Ist ein solches Referendum eine Form angewandter Gerechtigkeit?
Stefan Gosepath: Sofern es mit Umverteilung zu tun hat natürlich schon. Da wären ja größere Investitionen nötig gewesen und die Frage war, wohin gehen diese Mittel? Ein Teil davon wären Sponsorengelder gewesen, nehmen wir mal für den Moment an, die Investoren dürfen selbst entscheiden, wohin sie ihr Geld geben. Aber bei den staatlichen Mitteln ist die Frage, ob diese in Sportanlagen und einer Olympiastadt am sinnvollsten untergebracht sind. Das ist natürlich eine Bürgerangelegenheit, da kann man auch anderer Meinung sein. Und das hat etwas mit angewandter Gerechtigkeit zu tun, ob die nicht woanders nötiger investiert wären.
Aber Entscheidungen darüber, wohin das Geld fließt, werden ja selten der Bevölkerung überlassen.
So ist es, aber das ist eigentlich unfair. Nun kann man sagen, wir haben eine repräsentative Demokratie, insofern dürfen die Repräsentanten, die wir gewählt haben, darüber entscheiden. Aber sie treffen damit eine politische Entscheidung und in gewisser Weise auch eine Gerechtigkeitsentscheidung. Was ich in Hamburg gut finde ist, dass der Senat das mit einem Plebiszit entschieden hat.
Wann ist Umverteilung gerecht?
Die Definition von Gerechtigkeit gibt inhaltlich nicht so viel her: Das ist das lateinische suum cuique, jedem das Seine. Und über die Frage, was das ist, wird trefflich gestritten. Es gibt verschiedene Theorien, die ausbuchstabieren, was eine gerechte Verteilung ist. Man kann nicht sagen, dass der Begriff von Gerechtigkeit uns schon das richtige Kriterium an die Hand gibt.
56, ist Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin und Direktor der Kolleg-Forschergruppe „Justitia Amplificata: Erweiterte Gerechtigkeit – konkret und global“. Seine Forschungsschwerpunkte sind lokale, globale und angewandte Gerechtigkeit, Gleichheit, Menschenrechte, Demokratie sowie Theorien der Vernunft und Rationalität.
Wie kommt man der Sache näher?
Steuereinnahmen sollen zum Wohle der Bevölkerung investiert werden oder umverteilt werden. Aber auch hier ist die Frage, was ist das Kriterium? Mein Vorschlag, der sich mit dem des berühmtesten Gerechtigkeitstheoretikers des 20. Jahrhunderts, John Rawls, deckt, ist zu sagen: Im Zweifel für die am schlechtesten Gestellten. Das heißt jede ungleiche Verteilung muss so legitimiert werden, dass sie letztlich den am schlechtesten Gestellten zugute kommt.
Bemerkenswerterweise waren in Hamburg fast alle davon ausgegangen, dass die Olympia-Befürworter das Rennen machen. Nach den Auszählungen stellte sich heraus, dass vor allem in ärmeren Stadtvierteln viele dagegen gestimmt haben. Politiker verunglimpfen die Nein-Sager nun als Fortschrittsmuffel, Sportfunktionäre beschimpfen sie als uninformierte, irrationale Bauch-Bürger. Was sagt uns das?
Man könnte sagen – und das haben die Befürworter auch getan – die Olympischen Spiele verleihen der Stadt und der gesamten Region eine so große Dynamik, dass die Einnahmen daraus auch den Ärmeren zugute kommen. Das kann, wie man im Denglisch sagt, durch eine Trickle-down-Ökonomie geschehen: Das heißt, diejenigen, die mehr verdienen, werden auch mehr Geld ausgeben und das kommt irgendwann den Ärmeren zugute. Es ist natürlich eine empirische Frage, ob das wirklich so sein wird. Deshalb kann man auch sofort verstehen, dass ärmere Leute in bestimmten Stadtteilen Zweifel daran hatten, dass tatsächlich bei ihnen etwas von diesem neuen Wohlstand, der von der Stadt versprochen wurde, ankommen wird. Ganz anders wäre es gewesen, wenn die Stadt sich verpflichtet hätte, einen Teil der angenommenen Einnahmen zu einem bestimmten Prozentsatz in Projekte für Ärmere zu investieren. Dann hätten sie sich darauf verlassen können.
Die präferieren die konkrete Zusage?
Das wäre meines Erachtens das fairere Verfahren gewesen.
Wann kann man von einer rationalen Entscheidung sprechen?
Rational sind beide Varianten. Auch dieser Kaskaden-Effekt ist nicht irrational. Man versteht ja, warum Leute das sagen. Aber er birgt viel höhere Risiken und die muss man vorher einschätzen können. Deshalb halte ich die Ärmeren, die einen solchen Vorschlag ablehnen, nicht für irrational. Irrational wäre es, wenn sie aus stumpfer Boykott-Haltung opponiert hätten, aber so interpretiere ich den Widerstand gegen Olympia in Hamburg nicht. Soweit ich das als Nichthamburger beurteilen kann, sind hier die Argumente pro und contra abgewogen worden und es gab berechtigte Zweifel.
Die Initiative „Mehr Demokratie“ hat beklagt, dass die Gegner aus finanziellen und organisatorischen Gründen benachteiligt worden sind. Erfordert Gerechtigkeit auch Waffengleichheit?
Wenn man sich allgemeine Wahlen anguckt, dann ist gerade der deutsche Staat wirklich relativ gut darin, diese „Waffengleichheit“ herzustellen, indem er Parteien finanziert und Organisationen, die am Wahlkampf teilnehmen. Wenn man sich das amerikanische Gegenbild anschaut, fällt auf, dass es dort sehr stark vom privaten Einkommen und Spenden abhängt, wie gut man einen Wahlkampf bestehen kann. Das ist ein erheblicher Unterschied. Unseres ist das gerechtere Verfahren: Wenn es darum geht, in einer Demokratie die richtigen Entscheidungen zu finden, die auch den Willen des Volkes repräsentieren, dann muss man Chancengleichheit herstellen. Das gilt übertragen auch für das Plebiszit.
Was heißt das übertragen auf das Hamburger Beispiel?
Hier wird es die Sorge gegeben haben, dass das Olympische Komitee und bestimmte Schichten in der Stadt ein Eigeninteresse hatten, weil sie von den Spielen profitiert hätten. Wenn jetzt diejenigen, die bei der Entscheidung ökonomisch schlechter weggekommen wären, ihre politischen Anliegen aus rein ökonomischen Gründen schlechter in der Öffentlichkeit vorbringen können, ist das natürlich keine „Waffengleichheit“.
Letztlich ist durch das Referendum die Entscheidung von oben delegiert worden. Denn die Vorlage, die zur Abstimmung stand, kam ja vom Senat. Der wollte Rückhalt, aber es folgte die große Enttäuschung.
Aber daran zeigt sich doch etwas Gutes: Erstens, dass sich die politische Obrigkeit nicht mehr ohne Weiteres für eine Olympia-Bewerbung einsetzt, ohne sich den Rückhalt in der Bevölkerung zu sichern. Berlin, die Konkurrenzstadt hat ja unter anderem gegen Hamburg verloren, weil der Zuspruch in Hamburg größer schien. Das halte ich doch zunächst für einen extrem demokratischen Faktor. Das muss der Senat nicht machen, tut er aber – und da wird es ein Stück weit instrumentalistisch – weil er das Gefühl hat, diese Olympia-Bewerbung international nur mit starkem Zuspruch der lokalen Bevölkerung bestreiten zu können.
Dann wäre das Referendum nur ein Mittel zum Zweck.
Vielleicht wollte man dem Internationalen Olympischen Komitee zeigen, dass man diese Zustimmung hat. Aber jetzt kommt das nächste Gute: Die Bevölkerung lässt sich nicht so einfach instrumentalisieren. Das spricht total für die Demokratie. Das heißt, dass wir nicht nur Stimmvolk sind, sondern uns eine Meinung gebildet haben. Jetzt kann man darüber spekulieren, warum die Meinung umgeschlagen ist. Da waren die Schlagzeilen, die in letzter Zeit über den internationalen und nationalen Sport und die Finanzierung über die Ticker liefen, vielleicht nicht besonders ermutigend. Das ist in einer Hinsicht die Gefahr, aber aus Sicht der Bevölkerung das Tolle an diesem Instrumentarium: Man kann seinem Willen oder seinem Unwillen Kraft verleihen.
Aber von Hamburgs Politikern wird das gerade wenig honoriert.
Ich habe am Abend selbst die Rede von Olaf Scholz gehört. Er hat anerkannt, dass die Mehrheit entschieden hat und seine Meinung nun hinten ansteht. Ich sehe ihn als fairen Verlierer. Dass man sich ärgert, weil man ganz andere Pläne hatte, kann ich verstehen. Was ich nicht verstehen kann, ist WählerInnen für irrational zu erklären. Beschimpfung des Wahlvolkes hat noch nie geholfen. In der Tat hat sich hier doch eher gezeigt, dass das Wahlvolk sensibel auf Informationen reagiert, die in letzter Zeit an die Öffentlichkeit gedrungen sind. Das ist doch genau das, was man vom aufgeklärten Wähler will.
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