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Unterwegs am MittelmeerWie Europäer auch auf Reisen neue Grenzen ziehen

Unser Autor setzt ins mythisch aufgeladene Kreta über und wundert sich, wie Arroganz alle Grenzen überschreitet.

Auch Blicke schaffen Grenzen Foto: Martin Bertrand/imago

I ch stehe auf dem Deck einer Fähre. Vor mir schwarzes Nichts, hinter mir verglühen die Lichter Athens. Möwen folgen dem Schiff wie Geister einer anderen Zeit.

Zeus verschleppte die phönizische Königin Europa nach Kreta, wo er sie vergewaltigte. Nach Kreta steuert auch die „Blue Galaxy“. Sie dringt immer weiter ins Nichts vor. Se­nio­r*in­nen trinken Bier und singen Lieder. Eine aussterbende Kunst. Dabei wurde Sein hier erfunden – die alten Griechen gaben so dem Wandel eine Form. Heute wird Wandel bekämpft – an Europas Grenzen.

Gegen Mitternacht schlafen viele. Auch die Polizisten, die eben noch unnötig aggro filzten, sehen müde aus. Meine Chance. Ich gehe raus und rauche den Joint zu Ende. Das Weed kaufte ich am Vortag von einem Mann, der geflüchtet ist. Wir spielten uns Cloud Rap vor, sprachen über Politik. Er setzte sein Leben aufs Spiel, um herzukommen – ich buchte ein Ticket. Uns verbindet eine illegale Transaktion, kein Recht auf Bewegung. In Europa chillen die einen am Strand, andere ertrinken.

Später im Hochbett. Die Männer in der Kabine schnarchen, als wären sie alleine. Europäische Körper tun so, als wären sie Inseln. Halten sich für die Geilsten, schotten sich ab; in Deutschland vor der „irregulären Migration“ – derzeit völlig überdramatisiert. Der Dichter Glissant erkannte darin den Kern westlichen Denkens: Es zieht Grenzen, auch zwischen Körpern – und nennt es Identität. Eine uralte Lüge, die bei Rechten wieder in ist.

Lümmeln vor Frappés

Um 6.11 Uhr verlasse ich das Schiff. Zusammen mit Hunderten Lkws. Dichte Dieselluft. Klimakrise in den Lungen. Ich gehe die Straße rauf – zu einem Café. Bauarbeiter lümmeln vor Frappés, ignorieren mein Nicken.

Finden die mich lächerlich oder den hässlichen Rucksack? Warum ist mir das nicht scheißegal? Politik der Blicke: Ständig darüber nachdenken, was andere denken, und überall Zugang beanspruchen, ist das nicht auch europäisch?

Auch Blicke schaffen Grenzen. Zu Hause in Neukölln scannen sie mich wie den QR-Code für ein Underground­event: welche Sneaker? Droppt er die richtigen Insta-Bekenntnisse? Dass ich weniger als Bus­fah­re­r*in­nen verdiene – egal. Hier bin ich Tourist, also Mittelklasse.

Ich bin unter denen, die anderen Welten bauen, damit sie die eigene vergessen. Die arbeiten, damit andere reisen können. Und die Ruinen der Götter pflegen, die sich gegenseitig folterten. Europa ist ein Gewaltprojekt – und hält sich für zivilisiert.

Thymian in der Luft

Als Tourist bin ich Teil dieses Systems. Es predigt Freiheit, setzt andere fest. Doch ich sehe überall osmanische Minarette neben orthodoxen Kirchen – Zeichen des Austauschs, älter als jede Grenze.

Tage später, auf einer Klippe. Thymian in der Luft, Sonne streichelt das Gesicht. Das Meer glitzert wie Ideen auf Gras. Ich denke an meinen Freund, die Bauarbeiter, die Fähre, das Nichts am Horizont. Getrennte Welten, die doch zusammenhängen.

Glissant sprach vom archipelagischen statt kontinentalen Denken – Kontinente definieren sich über Grenzen, Archipele über ihre Verbindungen.

Die EU war mal eine Vision – nicht ideal, aber mehr Archipel als inselhafte Nationen, wie sie Europas Rechte zurückwollen. Nicht alles bewegt sich frei.

Cloud Rap und Weed schon, Menschen nicht. Vielleicht liegt Europas Zukunft in jeder Verbindung, die Grenzen überschreitet.

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Philipp Rhensius ist Autor, Soziologe, Journalist, Musiker und Editor von Norient. Seine Arbeiten sind angetrieben von der Idee, dass das Fühlen der Ketten der erste Schritt zur Emanzipation ist. Seit Herbst 2024 schreibt er die taz-Kolumne "Was macht mich" - mal poetisch, mal politisch, mal wtf!?
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