Pflegebetrug: Von Maulkörben bis zu Morddrohungen
Die Sozialstadträte von Mitte und Neukölln prangern mafiöse Strukturen bei Pflegediensten an. Auch der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) soll verstrickt sein.
Sechs Pflegekräfte vom Helfer bis zur Pflegedienstleiterin hatten die Sozialstadträte Michael Büge (CDU/Neukölln) und Stephan von Dassel (Grüne/Mitte) zu ihrer Pressekonferenz am Freitag mitgebracht, um ihre Vorwürfe zum Thema Betrug in der Pflege zu bekräftigen. Was die zu erzählen hatten, ließ die Ohren klingeln: Da ging es um angeblich zu pflegende PatientInnen, die nicht einmal in Deutschland leben, sondern nur hier gemeldet sind, um solche, die sich von der Pflegerin ins Sonnenstudio oder zum Baumarkt bringen lassen oder gar nicht zuhause sind, so dass der Pflege- zum Putzdienst wird - sowie um massiven Schweigedruck bis hin zu Morddrohungen von PflegedienstchefInnen.
"Insbesondere russische und türkische Pflegedienste" stünden im Fokus, so Stadtrat Dassel: "Solcher Betrug ist umso einfacher, wenn er in geschlossenen Systemen stattfindet. Das schaffen Sie nur, wenn Sie aus ein und derselben Ethnie kommen." Die anwesenden Pflegekräfte ergänzten das Bild mit Berichten über enge Beziehungen und Duz-Freundschaften zwischen Pflegedienstbetreibern und Mitarbeitern des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK), der die Einstufung Pflegebedürftiger kontrollieren soll: "Unsere Leitung wusste immer vorher, wann eine MDK-Prüfung kommt", berichtet eine der Pflegekräfte, die lieber anonym bleiben will. "Dabei sollen die eigentlich unangekündigt stattfinden."
Mit etwa 200 Millionen Euro jährlich unterstützt das Land Berlin Pflege für Menschen, bei denen die von der Pflegeversicherung übernommenen Kosten nicht ausreichen und Selbstzahlung nicht möglich ist. Von Betrug in diesem System können alle Beteiligten profitieren.
Seit Mitte 2010 verfügen zwar alle Bezirke über Personal, das die Abrechnungen prüfen soll. Obwohl, wie Stadtrat Büge der taz bereits zu Beginn dieser Woche sagte, in Neukölln seither "in bisher jeder geprüften Akte Fehler gefunden worden" seien, haben beide Stadträte in diesem Zeitraum erst zwei Anzeigen gegen Pflegedienste gestellt. Dass trotz der massiven Vorwürfe nicht mehr Verfolgung stattfinde, erklären Dassel und Büge mit fehlendem Personal. Vom Senat fordern sie zudem die Einrichtung zentraler Anlaufstellen bei der Sozialverwaltung, den Pflegekassen und den zuständigen Ermittlungsbehörden sowie die Kündigung von Verträgen mit unseriösen Pflegediensten. Zudem müsse der MDK seine Korruptionsprävention stärken.
Man nehme die Vorwürfe sehr ernst, so Hendrik Haselmann, Sprecher des MDK Berlin-Brandenburg, gegenüber der taz: "Da wir aber im Vorfeld nicht über die Korruptionsvorwürfe informiert wurden, brauchen wir für deren Aufklärung noch etwas Zeit."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos