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Peter UnfriedTor für Deutschland

■ Warum ein unscheinbarer Mann Europas Fußballer des Jahres sein muß

Um zu sehen, warum dieser scheinbar unscheinbare Mann der Fußballer des Jahres ist, muß man die eingefahrenen Sehwege verlassen, den Ball ziehen lassen und den Blick fest auf ihn richten. Ist gar kein Risiko; eher früher als später landet er ja doch bei ihm. Das heißt, oft landet er gar nicht. Unlängst in Gelsenkirchen kam er geflogen, und dann stieg dieser Fußballer vor der Strafraumlinie hoch und hielt – sich leicht drehend – auf seine scheinbar staksige Art die Brust dagegen. Der Ball flog weiter, aber der Spieler sah ihm gar nicht mehr nach, sondern hatte längst ausführlich den Linienrichter getadelt, als er eben sanft in den Armen seines Torhüter landete.

Eine Kleinigkeit? Mag ja sein. Aber beim Zusehen explodiert etwas im Kopf.

Frank de Boer mag nicht in Bestform gewesen sein, bei jenem gnädigen 1:1 gegen das DFB-Team, dennoch demonstrierte der niederländische Kapitän, was ihn zum herausragenden Fußballer auf der Position des (linken) Innenverteidigers macht. Er dominierte mit Oliver Bierhoff einen der besten Kopfballspieler der Welt in der Luft – und sonst sowieso. Er tat es nicht mit dem heißen Atem eines Kohler, sondern mit Schnelligkeit, Auge und nüchterner Präzision.

Das ist aber nur de Boers halbe Stellenbeschreibung. Daneben ist er ein brillanter Spieleröffner. Dabei gibt es sicher kaum einen Fußballer, der so kurz am Ball ist. Die Deutschen, sah er in Gelsenkirchen, „rennen zu viel mit dem Ball von Strafraum zu Strafraum.“ Nett anzusehen sei das – und Christian Ziege der Prototyp. Der könne das „90 Minuten lang tun, aber...“ Hier brach de Boer leider ab, und sagte lieber, na ja, das sei „ja auch eine Qualität.“

Seine Qualität ist eine andere. Er zieht nicht nowotnyartig mit dem Ball am Fuß los, sondern spielt immer den schnellsten Ball und dennoch den in der jeweiligen Situation besten. Muß man hinzufügen, daß alle Bälle ankommen? (Im Parkstadion hieß „alle“: alle bis auf zwei.)

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Frank de Boer (28) ist nicht eben ein Riese. Er hat einen leichten Silberblick. Wenn man kurz mit ihm redet, gewinnt man den Eindruck, als sei er ein eher unaufgeregter Fußballprofi. Sein Jahr bei Ajax Amsterdam war nicht eben sensationell erfolgreich und getrübt von dem Ärger, den er und Zwillingsbruder Ronald hatten, nachdem sich der Klub im Sommer weigerte, die beiden zum FC Barcelona bzw. FC Arsenal wechseln zu lassen. Seine WM aber war herausragend.

„Ich hatte mich zwei Jahre mit dieser WM beschäftigt“, sagt er. Bei der Euro '96 war noch Danny Blind der Oranje-Chef – und er verletzt. Trotz fünf Meisterschaften und dem Gewinn der Champions League mit Ajax hatte de Boer zudem das ungute Gefühl, die Welt kriege seine Klasse nicht so richtig mit. „Ich wußte, ich kann einer der Besten sein“, sagt er, „und so geschah es.“

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Kurz vor Weihnachten ruft das Fachmagazin France Football seit 1956 „Europas Fußballer des Jahres“ aus. Titelverteidiger: Ronaldo. Voraussichtlicher Sieger 1998: Zidane. Tor für Deutschlands alternative Wahl: 1. Frank de Boer, 2. Didier Deschamps, 3. Marcel Desailly (beide Frankreich), 4. Michael Owen (England), 5. Laurent Blanc, 6. Lilian Thuram (beide Frankreich), 7. Davor Šuker (Kroatien), 8. Edgar Davids (NL), 9. Paul Ince (England), 10. Dennis Bergkamp (NL), Zinedine Zidane (F), Oliver Bierhoff

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Zwei entscheidende Fragen an Frank de Boer:

1. Kann man besser spielen, als er es im WM-Halbfinale gegen Brasilien tat?

So eine Frage sollte man auf keinen Fall bejahen. Insbesondere nicht, wenn man keine Argumente hat. De Boer beherrschte eins gegen eins den besten Angreifer der Welt, köpfte Bälle von der Linie, verwandelte seinen Elfmeter – im Gegensatz zu seinem Bruder. „Es war das beste Spiel, das ich jemals gespielt habe“, das hatte de Boer noch in der Nacht von Marseille gesagt, dabei bleibt er auch nach einem knappen halben Jahr.

2. Wie erinnert er sich an sein Tackling gegen Ronaldo?

Es stand 1:1, es lief die Verlängerung. Roberto Carlos kam mit jedem Angriff seinem Ziel näher, Ronaldo in die entscheidende Position zu bringen. Als der schließlich den Ball hatte, wie er ihn brauchte, und in den Strafraum stürmte, sprangen die Leute im Stade Velodrome von den Sitzen, um Raum für den Torschrei zu haben. Da aber knickte de Boer das rechte Bein ab, grätschte mit dem starken linken zwischen Ronaldos Beinen durch – und berührte nichts als den Ball. Es war kein Tor, bloß ein Tackling, es drückte aus, was den besten Fußball von 1998 ausmachte: Er wurde stärker als von Ronaldo, Šuker oder Zidane geprägt von intelligenten, schnellen, kopfball- und zweikampfstarken nominellen Verteidigern.

Kann sein, daß es nicht jeder gesehen hat: Das Ganze dauerte auch bloß einen Moment. „Es war“, sagt Frank de Boer, „ein perfektes Tackling in einem perfekten Spiel.“ Es war der Moment des Jahres.

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