Performance zu Rechten der Natur: Parlament unter Bäumen

Ob Hopfen oder Pilz: Auf einem Gelände im Wedding wird die Organismendemokratie erprobt. Was passiert, wenn alle Lebewesen dieselben Rechte haben?

Lebewesen unter uns: Bäume Foto: picture alliance/dpa | Christoph Soeder

Durch Baumkronen fällt Sonnenlicht auf eine kleine Lichtung inmitten dichten Gestrüpps und üppig sprießender Pflanzen. Das Grün spendet wenig Schutz vor der sengenden Hitze, die an diesem Junitag über Berlin liegt. Nach und nach treffen rund ein Dutzend Personen ein, die sich vor einem Rednerpult auf Hockern verteilen. Eingepfercht zwischen zwei Wohnblöcken, einer vielbefahrenen Straße und einem Supermarkt, formiert sich auf einer Brache im Wedding das Parlament der Organismen. Seit 2019 tagt es einmal jährlich hier auf seinem Staatsgebiet an der ­Osloer Straße.

Nacheinander treten die Par­la­men­ta­rie­r*in­nen an ein Podest und lesen von einem Blatt Papier ihre Eide ab. „Als Mitglied des Parlaments der Organismen gelobe ich unverbrüchliche Treue der Organismendemokratie und ihrer Verfassung“, sagen sie. „Ich spreche für das Behaarte Schaumkraut, indem ich sage 'Ich als Behaartes Schaumkraut’“, oder ‚Ich als Aminobacter carboxydus‘.“

Eine Frau tritt ans Rednerpult. Auf ihrem Kleid klebt ein Aufkleber: „Hopfen“. Franziska Matthis arbeitet als Kunst- und Philosophielehrerin. An diesem Samstagnachmittag aber vertritt sie die Interessen des Hopfens, der an den Rändern der Brache wächst. Gemeinsam mit der „Bergulme“ trägt sie einen Antrag vor.

Damit die Bäume den Lebensraum anderer Pflanzen hier nicht überwuchern, werden sie jährlich gestutzt. Das aber, argumentiert der Hopfen, reduziere die Zukunftschancen junger Bäume und Kletterpflanzen.

Die Zukunftschancen junger Bäume

Kurzum schlagen Ulme und Hopfen vor: Man möge die abgeschnittenen Äste als Setzlinge ausbürgern. Der Verein Kiezwald würde den Pflanzen in der Baumschule des Pankower Max-Delbrück-Gymnasiums eine zweite Chance geben.

Führungen durch das Staatsgebiet in der Osloer Str. 107/108, 13359 Berlin-Wedding, sind jederzeit möglich: Bitte Anruf ☎ 0179-525 58 02 oder E-Mail: info@clubreal.de

Aber die Vertretung des Mahonienrosts, eines Pilzes, der auf Mahonien lebt, protestiert. Ungleichbehandlung sei das, Speziesismus sogar. Warum sollten die Gehölze eine solche Chance bekommen, die Pilze hingegen nicht?

2019 hat das Künstlerkollektiv Club Real auf einem ehemaligen Brauereigelände die Organismendemokratie gegründet. Ziel des Projekts ist es, allen Lebewesen auf dem Gelände dieselben Rechte zu geben. Mit Gesetzen, dem Parlament und einer Exekutive wird die Utopie in einer Art Performance zum Leben erweckt. Die Abgesandten können im Parlament Anträge stellen, von denen sie glauben, dass sie den Interessen der Spezies entsprechen.

Asyl für den Schleimpilz

Mit ernsten Mienen tragen die Par­la­men­ta­rie­r*in­nen ihre Anträge vor. Die Tauben wünschen sich ein Monument, das an ihre Verdienste erinnert und den „Verrat“ an den Brieftauben durch die Menschen und ihre Telekommunikationsapparate.* Der Admiral, ein Schmetterling, wünscht sich größere Rücksicht beim Betreten des Staatsgebiets. Auch Asylanträge werden gestellt.

Mit dem Schleimpilz will Georg Reinhardt, einer der Gründer der Organismendemokratie, gleich eine ganze Art neu ins Staatsgebiet holen. Laut Asylverfassung dürften eigentlich nur solche Organismen neu eingeführt werden, deren Spezies auf der Roten Liste gefährdeter Arten steht. Dass aber ihre Art im Parlament vollständig fehle, sagt Reinhardt, würde die Schleimpilze diskriminieren. Er plädiert für eine Ausnahme.

Die Teilnehmenden lassen sich auf den Versuch ein, andere Organismen aus sich heraus zu betrachten – und nicht nur durch die Augen des Menschen.

Unbeteiligte Zu­schaue­r*in­nen sind nur wenige da. Doch darauf kommt es der Gruppe nicht an. „Das Publikum macht die Performance selbst“, sagt Franziska Matthis. Sie beschreibt die Par­la­men­ta­rie­r*in­nen gleichzeitig als Schau­spie­le­r*in­nen und Beobachter*innen. Die Teilnehmenden lassen sich auf den Versuch ein, andere Organismen aus sich heraus zu betrachten – und nicht nur durch die Augen des Menschen.

Ideen für den Umgang mit anderen Lebewesen

„Es ist die Frage, ob wir das überhaupt können. Aber es ist spannend, es zu probieren“, sagt Robert Rädel alias „der Admiral“. Der Politologe bringt häufig Fragen in die Debatte, die die Verfassung der Organismendemokratie betreffen. Für ihn ist das Projekt „ein Inkubator für Ideen“, wie Menschen mit anderen Lebewesen umgehen und zusammenleben können – und sich ihrer besonderen Verantwortung für den Planeten bewusst zu werden.

Während der Sitzung werden die Anwesenden selbst zum Teil des Organismenwirrwarrs. Ameisen krabbeln in Ärmel, Raubfliegen landen auf T-Shirts. Ein Ölkäfer gräbt sich einen Weg durchs Gestrüpp. Peter Spillmann, Vertreter der Roten Taubnessel, stellt eine Grundsatzfrage: Ist es überhaupt zielführend, einzelne Spezies zu vertreten? Ist das nicht eine sehr menschliche Sichtweise, die künstlich Konflikte heraufbeschwört?

Unser Verständnis von Individualismus lasse sich auf die Organismenwelt nicht eins zu eins übertragen. Schließlich funktioniere diese anders: „als fließende Übergänge, symbiotische Organismenhaufen und Kooperationen“. Wäre es nicht also angebrachter, Sphären statt Individuen zu vertreten: das Reich des Bodens etwa? Um solche Fragen zu besprechen, gründet sich spontan eine Denkwerkstatt. Wie lässt sich eine Welt, in der alles mit allem verbunden ist, politisch vertreten? Im Wedding werden Ideen geschmiedet.

*Offenlegung: David Schmidt vertrat die Stadttaube vor dem Parlament.

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