: Perestroika und die Frauen
■ „W SSSR Perestroiki njet“
Eine alltägliche Straßenszene in russischen Städten: Frauen, die Steine schleppen, Gräben buddeln oder andere körperlich schwere Tätigkeiten verrichten. Niemand wundert sich. Mann ist es so gewöhnt. Das andere Extrem: immer mal wieder erscheinen in der Presse Artikel, die die Mutterschaft glorifizieren und die Rückbesinnung der Frauen auf ihre traditionelle Rolle als Hüterinnen des heimischen Herdes und häuslichen Friedens fordern. Diesen Artikeln zufolge könnte man meinen, die berufstätigen Frauen seien das Grundübel, an dem die sowjetische Gesellschaft krankt. Sie werden für Mißstände wie Alkoholismus, Explosion von Gewalt und Kriminalität, Verkommen althergebrachter Wertvorstellungen pauschal verantwortlich gemacht. Die Perestroika hat den sowjetischen Frauen wenig gebracht.
Als das russische Riesenreich 1917 die Fesseln des Zarismus abgestreift und dann Intervention und Bürgerkrieg durchgestanden hatte, entstanden auch Ansätze für ein neues Sexualverständnis und eine Neubestimmung der Rolle der Frau (siehe Wilhelm Reich). Ansätze, die jedoch bald wieder zunichte gemacht wurden. Die Gleichberechtigung der Frauen verkam zu einem propagandistischen Formalismus. Aufbaueuphorie, Krieg und Nachkriegsjahre verlangten von den Frauen ein Äußerstes an Arbeitsleistungen. Notgedrungen mußten sie in der produktiven Sphäre auch körperlich schwere Männerberufe übernehmen. Danach wurde aus der Not eine Tugend gemacht.
Die sowjetische Gesellschaft ist männerorientiert. Dieser latente Sexismus ist im Alltag überall zu spüren. Er macht sich auch verbal Luft. Die meistgebrauchten russischen Schimpfwörter und Flüche haben einen sexuellen Bezug und sind frauenfeindlich. Deshalb bleiben sie Männerrunden vorbehalten, in der Öffentlichkeit hört frau sie allenfalls von Betrunkenen.
Sexualität war bis vor kurzem ein völliges Tabuthema, und auch die Umgestaltung brachte nur eine geringfügige und an männlichen Bedürfnissen orientierte Liberalisierung. Eine muffige Sexualmoral vermittelt so verzerrte Bilder von Liebe und Sexualität. Für manch eine(n) aus der älteren Generation ist vorehelicher Geschlechtsverkehr auch heute noch anrüchig. Auch ein Jogger, der in kurzen Hosen in die Metro steigt, kann mit Schelte rechnen. Sexuelle Aufklärung gibt es kaum. Verhütungsmittel sind schwer erhältlich. Für viele Frauen bleibt Abtreibung als letzter Rettungsanker. Abgetrieben wird meist ohne Narkose und oft unter entwürdigenden Bedingungen. Für viele Frauen erschöpft sich unter diesen Umständen das Lebensziel darin, sich gut zu verheiraten, vielleicht gar mit einem Ausländer.
Es sind wenige, die unter den Benachteiligungen, denen sie ausgesetzt sind, wirklich zu leiden scheinen. Die meisten sind es nicht anders gewöhnt und versuchen sich einzurichten. Eine nennenswerte Frauenbewegung gibt es nicht. Angesichts der gesellschaftlichen Probleme und Erschütterungen sowie der täglichen kleinen Mißlichkeiten ist ohnehin eher die konservative Variante der Rollenauffassung im Kommen
Mario Kluge
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