Patrick Guyton über das Urteil im Fall der „Zwölf Stämme“: Zerstörte Lebenschancen
Sicherlich: Das Elternrecht und das Recht auf das Leben in der Familie sind sehr hohe Güter. Wer, wie bei der Sekte „Zwölf Stämme“ geschehen, von staatlicher Seite Kinder aus deren Heimat und Umfeld reißt, muss nicht nur gute, er muss unumstößliche Gründe dafür haben. Diese waren bei den christlichen Fundis mit Hippie-Gebaren aus der bayerischen Provinz gegeben. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht das so und urteilte jetzt, dass die Entziehung des Sorgerechts nicht nur rechtmäßig, sondern Pflicht war, um „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung“ zu verhindern.
Dabei haben auch die Behörden versagt. Sie hätten das Leid der Kinder verkürzen können. Das Landratsamt hatte schon in den frühen 2000er Jahren die Schulpflicht durchsetzen wollen, scheiterte aber an der Sturheit der Sekte. 2006 wurde ihr gar vom Kultusministerium die Privatbeschulung unter staatlichen Auflagen erlaubt, was sehr selten geschieht. Kontrolliert wurde aber wenig bis gar nicht. In der Schule unterrichtete größtenteils Laien-Personal, Themen wie Sexualkunde oder Evolutionstheorie kamen nicht vor. Nach Angaben eines Aussteigers hat kein einziger Schüler auch nur einen Hauptschulabschluss erhalten. Dafür mussten die Kinder auf dem Feld schuften.
Dass in der Gemeinde massiv, dauerhaft und auch noch voller Überzeugung geprügelt wurde, ist schlimm genug. Doch den Kindern und jungen Menschen wurde auch die Psyche gebrochen, Lebenschancen wurden zerstört. Viele von ihnen können in der Welt außerhalb der Sekte kaum leben, leiden unter massiven Angststörungen. Sie haben keine Ausbildung und keine Alltagsqualifikationen. Die Sektenmitglieder waren nicht krankenversichert, gingen deshalb kaum zu Ärzten; wie Sklaven erhielten sie keinen Lohn für ihre Arbeit und haben somit auch keine Rentenansprüche.
Der Fall zeigt: In einem sich als liberal verstehenden Land wie Deutschland gibt es Platz für sehr vieles. Dafür aber nicht.
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