Parteiaustritte altgedienter Mitglieder: Grüne Wachstumsschmerzen
Im Kreis Rotenburg (Wümme) treten zwei Ortsverbände fast geschlossen bei den Grünen aus. Sie hadern mit dem Wandel der Partei.
„Die Grünen hier schneiden sich ihre Wurzeln ab“, sagt Birgit Brennecke, die für den Ortsverband Bothel spricht, im Rat sitzt und auch schon einmal Landtagskandidatin der Grünen war. „Wir sind nicht die einzigen Ortsverbände, die hier eine feindliche Übernahme fürchten“, sagt Arthur Lempert, noch Sprecher des OV Scheeßel und LGBTQ-Beauftragter seiner Partei.
„Feindliche Übernahme“ – das ist einer der Aspekte, die hier eine Rolle spielen. Um die Aufnahme neuer Mitglieder gibt es einen schon länger schwelenden Streit mit dem Kreisvorstand. Der versucht nämlich, die aktuellen grünen Umfragehochs für sich zu nutzen, spricht aktiv Leute an und bittet sie, Mitglied zu werden.
Mit Erfolg: Über 200 Leute zählt der Kreisverband mittlerweile, auch ein Jugendverband wurde gerade aus der Taufe gehoben. Der Altersdurchschnitt sei erheblich gesunken, verkündet Kreissprecher Hans-Jürgen Schnellrieder stolz.
Glücksritter und Karrieristen
Aus Sicht der alteingesessenen Aktiven lockt das aber auch Glücksritter an, die vor allem schnell Karriere machen und Mandate abstauben wollen. Lempert und seine Mitstreiter*innen beharren demgegenüber auf dem Gewohnheitsrecht, Neumitglieder erst einmal einzuladen und beschnuppern zu dürfen, statt jeden aufzunehmen, der sich plötzlich irgendwie grün fühlt.
Damit stehen sie allerdings quer zur Landes- und Bundespartei, die auf allen Kanälen Mitgliederwerbekampagnen führt und neue Mitgliederrekorde feiert. Weil beim Beschnuppern nun Aerosole freigesetzt werden und es daher coronabedingt seit Monaten ausfallen muss, hängen etliche Mitgliedsanträge schon fast ein Jahr in der Warteschleife, was wiederum der Kreisvorstand unmöglich findet.
Das große Misstrauen gegenüber all diesen Neuen fußt allerdings auch auf Zerwürfnissen mit dem Kreisverband, die sehr viel älter sind als die frischen Unterschriften auf den Mitgliedsanträgen. Diese Konflikte sind für Außenstehende nicht leicht zu durchschauen, weil sehr viele persönliche Animositäten eine Rolle spielen, die gern auch über die Lokalpresse und die sozialen Netzwerke ausgetragen werden.
Möglicherweise haben sie ein wenig mit dem Führungsstil des Kreisvorstandes zu tun. Vor allem der Vorsitzende Hans-Jürgen Schnellrieder gilt als alerter Unternehmertyp, der mit großer Energie und großem Durchsetzungsvermögen, aber auch ausgeprägtem Machtbewusstsein agiert. Davon wiederum fühlen sich viele der grünen „Urgesteine“ überfahren und an den Rand gedrängt.
„Wir sind diejenigen, die hier vor Ort den Kopf hinhalten, sich mit Ratskollegen und anderen anlegen – seit Jahren. Aber unsere Themen und unsere Projekte spielen plötzlich keine Rolle mehr“, klagt Brennecke, „weder bei diesem Kreisvorstand, noch in der Partei insgesamt.“
Gewohnte Beteiligungsprozesse werden abgeschnitten
Zu ihren Kernthemen gehört der Kampf gegen Fracking und Flüssiggas, aber auch der traditionsreiche Friedensmarsch oder das neuere Thema Grundeinkommen. Und an allen Fronten hat sie das Gefühl, gegen Wände zu laufen: Zu lange, behauptet sie, sind die Grünen dem Gewäsch von den Brückentechnologien auf den Leim gegangen, statt einfach mal bei den Betroffenen vor Ort nachzufragen.
Traditionelle Aktionsformen und Beteiligungsprozesse seien plötzlich abgemeldet, wer nicht hundertprozentig digitalisiert unterwegs sei, habe eben Pech gehabt. Und um auch nur die Erwähnung des Wortes „Grundeinkommen“ in das Grundsatzprogramm der Grünen durchzufechten, habe es endlose Antragsschlachten gebraucht.
Dafür würden dann Wahlkampfthemen von oben durchgedrückt und gesetzt, die überhaupt keinen Bezug zur Realität vor Ort hätten, sagt sie. „Bus fahren umsonst“ hätte Brennecke einmal plakatieren sollen. „Dabei fährt hier gar kein Bus.“
Dramatische Austritte haben hier Tradition – siehe Twesten
Für Brennecke ist das allerdings auch nicht die erste Erfahrung mit fundamentalen Zerwürfnissen: Sie war diejenige, die Elke Twesten die Position als Landtagskandidatin weggeschnappt hat. Was letztlich dazu führte, dass diese im niedersächsischen Landtag von den Grünen zur CDU wechselte – und damit das Ende der rot-grünen Regierung unter Stephan Weil (SPD) einleitete.
Erlebt man hier also die hundertste Aufführung des fast vergessenen Stücks „Realos gegen Fundis“? Die normalen Wachstumsschmerzen einer werdenden Volkspartei, der die Anhänger der reinen Lehre von der Fahne gehen? Oder am Ende doch bloß das Produkt persönlicher Kränkungen?
Ein bisschen von allem, glaubt Ulrich Thiart, der als altgedientes Kreistagsmitglied den ganzen Zirkus ein wenig zurückgelehnter, aber auch mit sehr großer Sympathie für die Abtrünnigen betrachtet. „Da sind viele darunter, die hier über Jahrzehnte sehr engagiert waren. Die zu verlieren, tut wirklich weh“, sagt er.
Es sei offensichtlich, dass es eine Schieflage gäbe, wenn der Kreisvorstand, Delegiertenwahlen und vieles andere von einer gut organisierten Truppe aus einem einzigen Ortsverband dominiert würden. „Hier werden unsere basisdemokratischen Prinzipien beschädigt. Es ist doch vollkommen klar, dass dieser riesige Landkreis mit seinen ganz unterschiedlichen Problemlagen da nicht angemessen repräsentiert ist.“
Da hätte längst jemand moderierend eingreifen müssen, findet Thiart. Ob damit allerdings die unselige Neigung zur Spaltung zu beseitigen wäre, weiß er auch nicht. Die hat in der Region eine gewisse Tradition: Im nahe gelegenen Ottersberg hat es zeitweilig auch schon einmal drei grüne Fraktionen im Ratssaal gegeben.
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