Parlamentswahl in der Türkei: Auferstehung der Sozialisten
Mehr als eine halbe Million Menschen kommen zur Wahlkundgebung der oppositionellen Sozialdemokraten. Und plötzlich hat Tayyip Erdogan einen echten Herausforderer.
ISTANBUL taz | Es ist ein Meer roter Fahnen, in seinem ganzen Ausmaß nur von oben, durch die auf riesige Baukräne montierten Kameras zu überblicken. Es sollen gut eine halbe Million Menschen sein, die zur Hauptkundgebung der sozialdemokratischen CHP, der Republikanischen Volkspartei, vor der Parlamentswahl am 12. Juni in Istanbul gekommen sind.
Das Publikum besteht aus einem Querschnitt der Bevölkerung. Nur die Zahl der Kopftücher ist minimal. Man muss schon mindestens 50 Jahre alt sein, um sich an ähnliche Großkundgebungen der CHP in den siebziger Jahren, zu den Zeiten des damaligen CHP-Chefs Bülent Ecevit, zu erinnern. Zu verdanken ist das vor allem einem Mann, der nach langem Warten endlich die Bühne betritt: Kemal Kilicdaroglu.
Er hat die CHP nach 20 Jahren Lethargie, in der die Partei fast völlig in die nationalistische Ecke abgedriftet war, in nur einem Jahr als Vorsitzender wieder ins Zentrum des politischen Geschehens gebracht. Statt des Atatürk-Kults, in dem die CHP erstarrt war, geht es um Mindestlöhne, eine Familienversicherung und persönliche Freiheit. Plötzlich haben Ministerpräsident Tayyip Erdogan und seine AK Partei wieder einen echten Herausforderer. Neben der sozialen Ungleichheit geißelt er den "neuen Polizeistaat" unter Erdogan, in dem "jeder Kritiker zum Putschisten" erklärt wird und demonstrierende Studenten "reihenweise ins Gefängnis wandern".
Gewalt gegen Anti-Erdogan-Demonstranten
Erst wenige Tage zuvor hatte ein Zwischenfall bei einer Kundgebung Erdogans in der Schwarzmeerstadt Hopa den Debatten über das immer autoritärer werdende AKP Regime neuen Auftrieb gegeben. Mit massiver Gewalt ging die Polizei gegen Anti-Erdogan-Demonstranten vor, ein pensionierter Lehrer starb in den Tränengasschwaden. Hopa und die umliegenden Dörfer wurden zwei Tage von Sonderpolizisten durchsucht und über hundert Linke verhaftet.
Doch es ist nicht allein die Härte in Hopa, die zeigt, dass Erdogan und die AKP dieses Mal weit nervöser sind, als sie es bei den Wahlen 2007 oder 2002 waren. Damals traten sie als die Opfer des Militärs an, das ihre islamisch grundierte Partei unterdrücken wollte. Heute sitzt das Militär in der Kaserne oder auf der Anklagebank, aus den Opfern von gestern wurden die Täter von heute. Es gab in der Türkei seit dem Zweiten Weltkrieg und der Einführung des Mehrparteiensystems wohl keinen Ministerpräsidenten, der so mächtig war wie Tayyip Erdogan.
Machtanspruch Erdogans muss gestoppt werden
Die Opposition, von der rechtsradikalen MHP über die wiedererwachte CHP bis zu den in der BDP organisierten Kurden, ist sich deshalb in einem Punkt einig: Der Machtanspruch Erdogans muss gestoppt werden. Deshalb unterstützen türkische Intellektuelle die unabhängigen Kandidaten der kurdischen BDP, deshalb drücken linke Aktivisten der rechtsradikalen MHP die Daumen, dass sie den Einzug ins Parlament schafft, obwohl gezielt lancierte Sexvideos, die führende MHP-Mitglieder in zweideutigen Situationen zeigen, die Partei gerade zu ruinieren drohen.
Allen ist klar, dass die AKP wahrscheinlich wieder stärkste Partei wird, doch das gemeinsame Ziel ist es, eine verfassungsändernde Mehrheit der Regierungspartei zu verhindern. Denn nur dann ist gewährleistet, dass die AKP nach den Wahlen den Konsens für eine neue Verfassung suchen muss und Erdogan daran gehindert wird, ein Präsidialsystem einzuführen, das ihm den legalen Rahmen für eine Diktatur auf Zeit liefern soll.
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