Pariser Kathedrale Notre-Dame: Die Kirche der Nation
Notre-Dame steht für Geschichte der imposantesten und traditionellsten Form. Aber die Pariser Kathedrale steht auch für das Volk.
Es sind schreckliche Stunden voller Symbolkraft für jeden, der Frankreichs Geschichte auch nur ein wenig liebt. Das Herz des Landes brennt – vor den Augen all jener vielen Millionen Erdbewohner, die schon einmal zwischen den ehrwürdigen Säulen und den Kapellen voller Mysterien durch das Kirchenschiff gewandelt sind, die feierliche Luftigkeit genossen haben, die verrückten Kreuzgewölbe, die kunterbunten Kirchenfenster. Brennt Paris? Ja, irgendwie. Ein dichter Rauch steht über diesem ebenso bewegenden wie erbarmungslosen Spektakel.
Das brennende Gebälk stützte nicht nur ein kunstvolles Dachgestühl und einen stolzen Turm, sondern auch zu einem guten Teil die französische Identität, wo Schulwissen und Legende aufeinandertreffen: Karl VII und Jeanne d'Arc, Henri IV und Bossuet, die Revolution und die beiden Napoleons, die Befreiung, Claudel, der Marschall und der General – und in der Populärkultur vor allem der Glöckner Quasimodo, Frollo und Esmeralda, die Helden Victor Hugos, der mit seinem Monument aus Papier dem Monument aus Stein ein Denkmal gesetzt hat.
Notre-Dame de Paris, das ist zunächst einmal ein brutales und üppiges Mittelalter, zu Unrecht missachtet, von Historikern rehabilitiert, von der Öffentlichkeit geliebt, mit seiner an Fanatismus grenzenden Gläubigkeit, seinen blutigen Game-of-Thrones-Intrigen, seinem Elend und seinen Massakern, die einem den Glauben nehmen. Das große steinerne Raumschiff mitten in der Hauptstadt war der Treffpunkt des Volkes.
Auf der Île de la Cité, wo einst das römische Lutetia stand, errichteten die mit unbeschränkter Macht ausgestatteten Kirchenoberen diese Opfergabe aus Stein an ihren über Europa herrschenden Gott. Von West nach Ost gen Jerusalem ausgerichtet wie so viele Kathedralen, zwei massive Türme, ein gigantisches Kirchenschiff, ein Querschiff mit Rosenkränzen aus Licht, ein Chor wie ein in die Seine hineinragender Bug, ein Turm als Wolkenkratzer über dem christlichen Paris als Inkarnation der unangreifbaren Macht des Katholizismus.
Ringsum drängeln sich die fragilen Verschläge eines an Unglück gewohnten Volkes, das harte Leben im Schatten der steinernen Wasserspeier und Heiligen, unter dem Schutz von Reliquien mit magischen Kräften, darunter die von Ludwig dem Heiligen dort verstaute Dornenkrone Jesu Christi. Gläubige, Bürgerliche, Herrschaften, aber auch Geächtete, Ausgeschlossene, Leidende erhalten Aufnahme zwischen diesen Mauern, die uns fahl erscheinen weil die ursprünglichen roten und goldenen Fresken im Laufe der Zeit verblichen sind und nie restauriert wurden in einer Epoche, in der man die Religion von Natur aus für karg hielt.
Große Ereignisse folgten aufeinander in diesem lebenden Museum und markieren die Kapitel der Geschichtsbücher der Republik. Philipp IV, genannt der Schöne, berief hier im Streit mit dem Papst die ersten Generalstände des Königreiches ein. Karl VI, genannt der Vielgeliebte, wurde als Kind hier zum König von Frankreich und England gekrönt, ebenso später Maria Stuart aus Schottland. Karl VII, genannt der Siegreiche, feierte hier die Rückeroberung seiner Hauptstadt von den Engländern und den Burgundern mit einem Te Deum, das erste einer langen Reihe, und berief das Kirchentribunal ein, das die in Rouen verbrannte Jeanne d'Arc rehabilitierte. Margarete von Valois, genannt Königin Margot, heiratete hier Heinrich von Navarra, den Hugenottenkönig der während der Trauungszeremonie draußen wartete, sechs Tage bevor aus dieser Versöhnungshochzeit die Bluthochzeit mit dem Massaker der Bartholomäusnacht wurde. Noch ein Te Deum gab es zur Hochzeit von Louis XIV, eine beeindruckende Trauerrede von Bossuet zum Tod des Prinzen von Condé.
Napoleon krönt sich hier zum Kaiser, nimmt aus den Händen des Papstes die Krone entgegen um sie sich selbst auf den Kopf zu setzen und dann seine Tochter Josephine zu krönen. Sein Neffe Napoleon III heiratet hier seine Kaiserin und lässt hier den Kaiserprinzen taufen. Zwischendurch hat die Revolution aus der Kathedrale einen kurzlebigen „Tempel der Vernunft“ gemacht, in einem vergeblichen Versuch der Entchristianisierung, als aus Kirchen Getreidespeicher wurden und aus Glocken Kanonen.
Dunkle Stunden gibt es während der deutschen Besatzung. Kardinal Suhard empfängt hier feierlich unter dem Jubel der Pariser im April 1944 Marschall Pétain. Lichte Stunden folgen: die Befreiung von Paris beginnt nahe des Vorplatzes mit der Revolte der Polizeipräfektur, geht weiter mit einem Steinwurf vor dem Rathaus, mit den Panzerfahrzeugen von Kapitän Dronne und spanischen Republikanern, und schließlich die Apotheose mit dem Orgeldonnern des Te Deum und der Marseillaise im Beisein von General de Gaulle und den Anführern des freien Frankreichs und der Résistance. Im Augenblick ihres Einzuges in die Kathedrale eröffnen Scharfschützen von Dächern das Feuer auf die Menge, und es heißt, der General sei als einer der wenigen aufrecht geblieben und sei unverändert bedächtig in das Kirchenschiff geschritten.
Hinter einer Säule von Notre-Dame findet Claudel zum Glauben, hier betrauert die Nation Charles de Gaulle, Georges Pompidou und Francois Mitterrand, obwohl dieser Saint-Denis vorzog. Hier ehrt man den Abbé Pierre, die Schwester Emmanuel, hier nimmt sich der rechtsextreme Schriftsteller Dominique Venner das Leben, hier sammelt man sich nach den Anschlägen des November 2015.
Die französische Tageszeitung Libération und die taz kooperieren regelmäßig und tauschen Berichte zu nachrichtlichen Ereignissen, Analysen und Kommentare aus.
Notre-Dame steht also für Geschichte der imposantesten und traditionellsten Form. Aber Notre-Dame steht auch für das Volk. Victor Hugo hat die düsteren Emotionen des Glaubens beschrieben, aber vor allem den Überschwang der Menge auf dem Vorplatz und sogar im Kirchenschiff, wo sich die Handwerker drängelten, die Spinnweber, die Lastenträger, die Prostituierten, wo die Zigenuerin Esmeralda tanzte, wo der Glöckner Quasimodo litt – er lebte in den obskuren Höhen des Gebälks, das jetzt verbrannt ist. Vor ihm hat Eugène Sue seine Mystères de Paris, der erste große Reportageroman über das Elend, die Menschlichkeit und die Würde der Vergessenen, hier auf der Île de la Cité beginnen lassen, dem ärmsten Viertel der Hauptstadt. Und nicht zuletzt hat ein Musical voller leichter Melodien in die ganze Welt den Ruhm dieses Monuments getragen, das in sich die Größe einer mythischen Geschichte mit den allzu menschlichen Prüfungen eines mal devoten, mal aufsässigen Volkes vereint.
Übersetzung des französischen Orginals aus Libération: Dominic Johnson
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour