Paralympische Spiele in Tokio: Reise ins Ungewisse

Das deutsche Team will bei den Paralympics seinen Platz in den Top Ten behaupten. Das Problem ist nur, dass es bislang an Vergleichen fehlt.

Andrea Eskau bei einem Rennen auf ihrem Handbike

Auf Andrea Eskau ist Verlass: Seit 2008 erradelte sich die 50-Jährige stets eine Goldmedaille Foto: Beautiful Sports/imago

Eine klare Zielvorgabe für das paralympische Team Deutschland formuliert Karl Quade nicht. Medaillenprognosen sind nicht mehr zeitgemäß im modernen Spitzensport, der immer wieder von Dopingskandalen und Diskussionen gebeutelt wird. Die Immer-Schneller-, Höher-, Weiter-Zeiten sind vorbei, zumindest offiziell, und das im paralympischen genauso wie im olympischen Sport.

Eine kleine Kampfansage erlaubt sich der Vizepräsident Leistungssport des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS) und langjährige deutsche Chef de Mission vor der Eröffnung der Paralympischen Spiele morgen in einer Woche in Tokio aber schon: „Wir hoffen, dass unsere Mannschaften besser abschneiden als die bei den Olympischen Spielen.“

Die deutschen Fußballer, Handballer, Basketballer, Hockeyspieler und -spielerinnen waren in Tokio allesamt ohne Medaillen geblieben. Die beiden deutschen Rollstuhlbasketball-Teams, die Sitzvolleyballer und die Goalballer sollen es nun besser machen. „Unsere Mannschaften können alle das Halbfinale erreichen“, prognostiziert Quade, selbst Paralympicssieger von 1988 im Standvolleyball, das inzwischen nicht mehr paralympisch ist.

Seit 1996 ist der Leverkusener Sportwissenschaftler bei den Paralympics als Funktionär für das deutsche Team im Einsatz. Er hat erlebt, wie es der Behindertensport in den letzten 30 Jahren von Randnotizen in den Medien zu weltweiter Beachtung und eigenen Superstars geschafft hat. Bei den Spielen 2012 in London erreichte die öffentliche Begeisterung für den Behindertensport ihren bisherigen Höhepunkt, die Tickets für die Wettbewerbe in der britischen Metropole verkauften sich damals wie warme Semmeln.

Das deutsche Team wird in Tokio mit 134 Athletinnen und Athleten am Start sein. Bis zum 5. September werden in 22 Sportarten 539 Wettbewerbe ausgetragen. Para-Badminton und Para-Taekwondo feiern ihre Paralympics-Premiere. Durch die unterschiedlichen Klassifizierungen je nach Art und Schwere der Behinderung werden im Parasport pro Sportart deutliche mehr Medaillen vergeben als im olympischen Sport. Die Einteilung in die unterschiedlichen Startklassen ist auch das größte Handicap des Behindertensports, da sie für den Laien oft nicht leicht zu verstehen ist.

Deutscher Ausnahmeathlet Markus Rehm

Bei den letzten Paralympics in Rio sammelten die deutschen Athleten 57 Medaillen, 18 davon in Gold. Im Medaillenspiegel bedeutete das Platz sechs. Spitzenreiter waren die Chinesen mit 239 (107) Medaillen vor dem Vereinigten Königreich (147/64) und der Ukraine (117/41). Einen Platz unter den Top Ten wünscht sich Quade auch diesmal: „Wir fahren da nicht rüber, nur um dabei zu sein, wir wollen auch sportlichen Erfolg haben.“ Aber nicht um jeden Preis. Das Wichtigste sei: „Dass die Athleten im Rahmen ihrer Bestleistungen agieren, dann hat schon viel funktioniert.“

Die „Säulen des sportlichen Erfolgs“ des DBS-Teams seien in der Vergangenheit Radsportler und Leichtathleten gewesen, sagt Quade. Und die Radsportler um Andrea Eskau oder Denise Schindler sowie die Leichtathleten um Superstar Markus Rehm, den kleinwüchsigen Niko Kappel oder Prothesen-Sprinter Johannes Floors haben auch in Tokio viel vor. Der Leverkusener Rehm ist im Weitsprung so unangefochten wie kaum ein anderer Athlet. Nach seinem Weltrekord (8,62 Meter) in diesem Jahr bei der Para-EM gilt der unterschenkelamputierte Paralympicssieger von 2012 und 2016 eh als Favorit. Sein Können hätte für eine Olympiateilnahme gereicht, doch diese verwehrten ihm der Internationale Leichtathletik-Verband und der Internationale Sportgerichtshof Cas.

Insgesamt sei es in diesem Jahr jedoch schwer, die Leistungsstärke der deutschen Athleten einzuschätzen, betont Quade. Es habe kaum internationale Vergleiche gegeben. „Wir wissen einfach nicht genau, wo wir stehen.“

Die Lage in Tokio ist seit dem Ende der Olympischen Spiele nicht einfacher geworden, da die Corona-Infektionszahlen weiter rasant steigen. Am Montag wurde entschieden, dass auch bei den Paralympics keine Zuschauer zugelassen werden. Die deutschen Athleten sind zum Teil bereits zur Akklimatisierung in Vorbereitungs-Camps in Japan gereist, das Gros der Mannschaft wird jedoch am Donnerstag nach einer Verabschiedung durch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach Japan aufbrechen.

Die größte Sorge der Athleten ist, das Ziel Paralympicsteilnahme noch durch einen positiven Coronatest zu verpassen. Quarantäne statt Wettkampf, das ist das Horrorszenario der Spiele 2020. Karl Quade betont jedoch, dass sich das Team trotz aller Umstände auf die Spiele freue: „Wir sind optimistisch und werden bestmöglich mit der ­Situation umgehen.“

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