Parallele Gesellschaften: Judenhass in Pariser Vorstadt
Nach dem Angriff auf einen jüdischen Jugendlichen im Pariser Osten verteidigen die Bewohner ihr Viertel. Dabei lebt man hier meist aneinander vorbei.
PARIS taz "Madame, ein Tunesier ist tot. Warum schreiben Sie nicht über ihn?" Der junge Mann auf der Rue Petit schleudert der Journalistin seine Worte vorwurfsvoll entgegen. Er spricht das raue Französisch der Nachfahren nordafrikanischer Einwanderer. Seit der 17-jährige Rudi am vergangenen Samstag an dieser Stelle im 19. Pariser Arrondissement von mehreren Jugendlichen mit Eisenstangen, Tritten und Fausthieben schwer verletzt worden ist, bricht das Defilée von Politikern, Sprechern der jüdischen Gemeinde und Journalisten nicht mehr ab. "Es ist ein Akt von antisemitischer Gewalt", sind die einen überzeugt. Begründung: "Rudi trug eine Kippa." Die anderen halten dagegen: "Es war eine Abrechnung zwischen Banden." Begründung: "Kurz vor der Tat gab es eine Schlägerei zwischen jungen Juden und jungen Schwarz- und Nordafrikanern".
Das 19. Arrondissement im Osten der französischen Hauptstadt ist eine gemischte Wohngegend. Am Samstag treffen sich Chinesen zum Tai-Chi auf den Hügeln des Parks Buttes Chaumont. In der nordöstlichen Ecke des Parks gehen orthodox gekleidete jüdische Familien spazieren. Und vor dem Rathaus posierten antillanische Paare zum Hochzeitsfoto. In den teuren Wohnungen mit Blick auf den Park leben alte Bourgeois und neue "Bobos" (Yuppies).
Wenige Straßen weiter, in Richtung Place Stalingrad, beginnt ein anderes Wohngebiet. Dort leben afrikanische Einwanderer und eine große jüdische Gemeinde Tür an Tür. In der Rue Petit liegen eine Stadtteilkulturinitiative, eine katholische Kirche und eine orthodoxe Synagoge der Lubavitcher Gemeinde.
In dem von Kameras und Gittern umgebenen streng bewachten Betongebäude der Synagoge ist Europas größte jüdische Privatschule untergebracht. Der 17-jährige Rudi - so der Stand der Ermittlungen - war unterwegs zu dieser Synagoge, als er auf seine Angreifer traf. Es war Sabbat. Seither liegt Rudi, ein angehender Klempner, mit Schädel- und Rippenbrüchen im Krankenhaus. Fünf junge Männer sitzen in Untersuchungshaft. Sie sind zwischen 14 und 18 Jahren alt und stammen aus nord- und schwarzafrikanischen Familien.
"Das hier ist kein Getto", sagt ein junger Algerier, der einen Kinderwagen über die Rue Petit schiebt. "Wir leben hier einvernehmlich miteinander. Wir sind nicht antisemitisch." Eine malische Mutter, die ihr Baby auf dem Rücken trägt, betont: "Dies ist eine friedliche Gegend." Sie wohnt wenige Meter vom Tatort entfernt. Mit Menschen, die aus anderen Weltgegenden als ihrer eigenen kommen, hat sie nichts zu tun. Über die "jüdischen Jungen auf der Straße " schimpft sie: "Sie kämpfen viel und sind laut", sagt sie. Oft müsse die Polizei eingreifen: "Wegen ihnen".
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen Mitarbeiter des Stadtteilzentrums. "Das sieht nach einer Abrechnung zwischen Jugendlichen aus", versichert einer, "aber die politisch Mächtigen versuchen, den Communautarisme [die gegenseitige Abschottung der unterschiedlichen Gemeinschaften, d. Red.] zu instrumentalisieren". In der Runde steht auch ein in Schwarz und Weiß gekleideter junger Mann mit einem breitkrempigen Hut. Auf der Straße rufen sie ihm manchmal "Rabbi Jacob" hinterher, "wie in dem Film von Funès". Das sei "witzig", versichert er. "Die Grausamkeit hier hätte jeden treffen können", sagt er, "aber es traf einen Juden. Und da denken wir natürlich an andere Gewalttaten."
"Diese Gewalt beunruhigt uns", sagt auch der Vater, der mit zwei Söhnen von einer Hochzeit in der Synagoge kommt. Während der zweiten Intifada hat man ihm oft auf der Straße hinterhergerufen: "Gib uns Palästina zurück!" Doch seither haben sich die Verhältnisse beruhigt. Aber wenn "so etwas passiert", sei die Angst "gleich wieder da". Seine Kinder schickt er in eine jüdische Privatschule. Mit Jugendlichen aus anderen "Gemeinschaften" haben sie keinen Kontakt - "allenfalls beim Fußball".
Ein junger Mann aus einer marokkanischen Familie versichert: "Mit solchen Typen habe ich nichts zu tun." Er meint das Opfer der Gewalttat. "Ich bin kein Rassist", versichert er. "Ich frequentiere alle möglichen Leute. Auch Juden. Aber dieser Junge hat es gesucht." Mehr will er nicht sagen. Seine Freunde rufen ihn weg. Auf Arabisch.
Mit der Polizei hatte der 17-jährige Rudi vor der Gewalttat, die ihn beinahe das Leben kostete, nur eine Begegnung. Das war im vergangenen Winter, während des Chanukka-Festes, bei einer Schlägerei mit nordafrikanischen Jugendlichen. Rudi wurde mit einem verbotenen Schlagring festgenommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Israels Brüche der Waffenruhe
Die USA sind kein neutraler Partner