Papagei auf Reisen: Tolaz, der Vagabund
Nach der Stürmung der Nachrichtenagentur DİHA wurde der Redaktions-Papagei zum Symbol für Pressefreiheit. Die Reporter*innen machen weiter.
„Tolaz“ bedeutet im Kurdischen „Rumtreiber“. So nennt man jemanden, um ihn dafür zu bestrafen, dass er sich nicht an die gesellschaftlichen Regeln hält. Eigentlich ist das Wort „Tolaz“ negativ konnotiert. Dass die Dicle Nachrichtenagentur (DİHA) sich ihr Büro mit einem Papageien teilt, der Tolaz heißt, hat seine eigene Ironie. Natürlich hat Tolaz seinen Namen nicht wegen seiner ursprünglichen Bedeutung erhalten. Im Gegenteil: Der Name Tolaz hat auch eine neckische und lustige Seite.
DİHA wurde 2002 gegründet, um vorwiegend Nachrichten aus Gebieten zu erhalten, in denen Kurd*innen leben, und der einseitigen Berichterstattung vorzubeugen. Seit der Gründung waren die Mitarbeiter*innen der DİHA und die Agentur vielfacher Repression ausgesetzt. Niemand kann sich mehr an die Zahl der festgenommenen Mitarbeiter erinnern. Als im Südosten der Türkei zahlreiche vorwiegend kurdisch besiedelte Städte dem Erdboden gleichgemacht wurden, berichteten die DİHA-Reporter*innen aus nahezu jedem Dorf und jeder Stadt.
Wer in der Türkei in einem Medienunternehmen abseits der Mainstream-Medien arbeitet, wird aufgrund des gegenwärtigen politischen Klimas mit Repressionen und Diskriminierung sowie der gnadenlosen Seite der staatlichen Stellen konfrontiert.
Tolaz hat diese Seite kennengelernt. Die Geschichte des Papageis, der mittlerweile auch in Deutschland einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt hat, ist – wie sein Name – höchst ironisch.
arbeitet seit 2013 als freie Journalistin in den Türkei- und Nahost-Büros von Zeit, Spiegel und Channel 4 News. Zuvor arbeitete sie unter anderem für Turkish Daily News, HaberTurk und BBC Türkçe in London.
Tolaz allein zu Haus
Ohne Vorwarnung wurde die Redaktionsräume von DİHA eines Nachts gestürmt. Niemand hatte die Mitarbeiter*innen darüber informiert und Tolaz befand sich noch in der Redaktion. Es war eiskalt in Ankara, der Papagei brauchte seine tägliche Ration Futter. Tolaz, der kurdische und türkische Wörter beherrscht, hasst es, allein zu sein und ist ein ziemlich geselliges Tier. Wahrscheinlich hatte Tolaz in der Nacht, als Polizisten gewaltsam eindrangen, große Angst.
Als die DİHA-Mitarbeiter*innen am nächsten Morgen die Tür versiegelt vorfanden, machten sie sich große Sorgen um ihren Papagei. Weil sie wussten, dass Tolaz auf Rufe und die Türklingel reagiert, klingelten sie und riefen seinen Namen. Als Tolaz von drinnen “Heval, alooo, kim ooo?“ rief (dt.: “Hey Kumpel? Wer ist da?“), kam Panik auf. Heval ist kurdisch und bedeutet Freund oder Gefährte.
Wie viele andere Medienmacher*innen aus der Türkei war Tolaz auf die Solidarität seiner Freunde angewiesen. Das Team von DİHA konnte die Einheit, die die Tür versiegelt hatte, nicht kontaktieren. Weder wurden im Vorfeld die Mitarbeiter informiert, noch wurde ein gerichtlicher Beschluss hinterlassen.
Keine Panik, Tolaz geht es gut
Da es um ein Tier ging, wurden neben vielen anderen Ämtern auch das Forstamt angerufen. Zwischenzeitlich stießen die Postings der Redakteur*innen in den sozialen Medien auf immenses Interesse. Abgeordnete wie Sezgin Tanrıkulu von der CHP engagierten sich für den Papagei. Um es kurz zu halten: Tolaz geht es gut und er ist in Sicherheit.
Viele Redaktionen wurden nach dem Trauma des Putschversuchs am 15. Juli unter Umgehung des Gesetzes per Dekret geschlossen. Mit dieser Notstandsverordnung ist es den Sicherheitskräften erlaubt, die Büros unter der Anwesenheit von Gerichtsvollziehern zu räumen, sämtliches Equipment zu beschlagnahmen und die Tür anschließend zu versiegeln. Am Abend des 29. Oktober 2016 wurden per Notstandsdekret 15 mehrheitlich kurdische Redaktionen geschlossen. Unter ihnen war die Redaktion von DİHA.
Nachrichten, überall: „HaberSIZsiniz“
Vieles, was Journalist*innen derzeit erleben, kündigt den Beginn eines neuen beruflichen Selbstverständnisses an.
Am 30. Oktober, einen Tag nach der Veröffentlichung des Dekrets, trafen sich die „arbeitslosen Kolleg*innen“, deren Zeitungen und Fernsehkanäle plötzlich geschlossen wurden, im zweiten Stock eines Restaurants in Ankara. Sie sagten sich: „Überall ist unser Büro, überall ist unser Studio“, „Nachrichten – überall“ und gründeten trotz des anhaltenden Repressionen die Plattform HaberSIZsiniz (dt.: IHRe Nachrichten).
„Wir wussten, dass sie uns nicht in Ruhe lassen würden“, erzählt DİHA-Redakteur Deniz Nazlım. „Ich fand es aufregend, darüber nachzudenken, was passiert, wenn ich nicht mehr jeden Tag im Büro, sondern auf der Straße, mittendrin im Geschehen bin und meine bisherigen Gewohnheiten ablegen muss.“ Vorsorglich hatte er sich mit Batterien und einem neuen Laptop ausgestattet. „Wir hängen nicht an Orten, sondern an unserem Beruf“, sagt Nazlım.
Das wird die Menschheit wachrütteln
Der ehemalige DİHA-Redakteur Hayri Demir erzählt von elf Redakteuren, die sich derzeit in Haft befinden. „Viele müssen Anklagen befürchten oder wurden bereits angeklagt. Von der Gründung bis zur Schließung von DİHA wurden mehrere Mitarbeiter*innen festgenommen, die mit dem Vorwurf angeklagt wurden, gegen das Gesetz der Terrorabwehr verstoßen zu haben. In den Gerichtsakten fanden sich allerdings nur die Artikel der Journalist*innen“, sagt er.
Im Zeitraum Juli 2015 bis Ende Oktober 2016 sperrte die türkische Informations- und Kommunikationsbehörde 48 Mal die Webseite der DİHA.
Demir und Nazlım denken, dass die Berichterstattung über die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der türkischen Armee und kurdischen Rebellen im vergangenen Jahr zu den wichtigsten Aufgaben der DİHA zählt: “Allein den DİHA-Journalist*innen ist es zu verdanken, dass die Geschichte der zehnjährigen Cemile Çağırga an die Öffentlichkeit gelangte, die während der Ausgangssperre in Çizre getötet wurde und deren Leichnam mehrere Tage lang von ihrer Familie in der Tiefkühltruhe aufbewahrt werden musste. Oder die Geschichte von Taybet Ana, deren blutiger Leichnam sieben Tage lang in Silopi auf der Straße lag, weil ihre Familie wegen der Ausgangssperre nicht einmal das Haus verlassen konnte“, sagen sie.
„Auch die Geschichten der Menschen, die in den Kellern von Çizre verbrannt wurden, haben die DİHA-Reporter*innen erzählt. Ihre Nachrichten und Bilder von diesen Gewalttaten wurden als Beweismittel für Menschenrechtsklagen herangezogen. Wir haben Zeugnisse geliefert, die Menschen wachrütteln werden. Als Dank dafür wurden unsere Nachrichtenagentur geschlossen.“
* Tolaz wurde zu einem Symbol für die Pressefreiheit. Die Plüschversion des liebenswerten Papageis ist gerade auf Tour in europäischen Medienhäusern. Seit Anfang der Woche ist er in der taz.gazete-Redaktion zu Gast. Im Laufe der nächsten Monate wird der Plüschpapagei Tolaz weiter auf Reisen geschickt und soll ganz zum Schluss sogar zur New York Times. Am Ende seiner Reise wird er versteigert. Der Erlös geht an Reporter ohne Grenzen.
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