piwik no script img

Pädagoge über Angehörige von Sekten„Es gibt oft kein Vertrauen“

Die Beratungsstelle „SektenInfo Berlin“ ist gefragter denn je. Über den Psychomarkt, verzweifelte Angehörige und die Gefahr von Verschwörungsmythen.

Vermischen Spirituelles mit Demokratie­feindlichem: „Querdenker“-Demo in Berlin 2020 Foto: Lutz Jaekel/laif
Anke Richter
Interview von Anke Richter

taz: Herr Küenzlen-Zielinski, wie viele Anfragen bekommen Sie im Schnitt?

Karol Küenzlen-Zielinski: Im letzten Jahr waren es 643. So viel wie seit Jahren nicht mehr.

Ihre Beratungsstelle ist im Gegensatz zu vielen anderen staatlich, nicht kirchlich. Wie wirkt sich das aus?

Wir sind weltanschaulich neutral und sprechen heute eher von „konflikthaften Gruppen auf dem Lebenshilfemarkt“, denn wir bewerten den Glauben nicht. Für uns ist nur wichtig, welche Praktiken sich daraus ergeben und wie viel Machtmissbrauch und Manipulation herrscht. Jede Gruppe oder Gemeinde kann sich dahin entwickeln, wenn Kritik nicht akzeptiert wird und soziale Kontakte außerhalb unterbunden werden. Dazu kommt oft eine rigorose Moralvorstellung oder der Glaube, den einzig wahren Weg zu haben, durch den man automatisch andere Weltanschauungen abwertet.

taz: Kommen zu Ihnen vor allem besorgte Angehörige?

Ja, zu ca. 80 bis 90 Prozent. Zum Rest zählen Aussteiger*innen, die hineingeboren wurden – wie Kinder aus den Osho-Ashrams, den Zeugen Jehovas und der Otto-Muehl-Kommune. Man­che haben als Erwachsene immer noch Probleme und suchen Hilfe.

Was sagen Sie denen?

Das ist sehr individuell. Manche Erlebnisse werden noch Jahrzehnte später verarbeitet. Da sind Scham- und Schuldgefühle, weil man andere in die Gruppe gebracht hat oder erniedrigt wurde. Wir sind aber keine Therapeuten und verweisen dann weiter, wenn mehr Unterstützung nötig ist.

Wie gebrochen sind manche?

Wir sehen viel Verzweiflung und Orientierungslosigkeit. Oft ist kein Vertrauen in die Gesellschaft mehr vorhanden. Wenn das dann bei einer staatlichen Einrichtung wie unserer erfahrbar wird, kann das auch helfen, etwas zu reparieren, was durch eine Ideologie zerstört wurde.

Holen Sie gefährdete Leute aus Gruppen raus?

Wir intervenieren nicht, aber leiten alles strafrechtlich Relevante weiter. Die Menschen müssen ihren eigenen Weg gehen und können nicht dazu gezwungen werden. Wir unterstützen nur den emanzipatorischen Prozess. Was früher in den USA praktiziert wurde, Angehörige aus solchen Gruppen zu entführen und umzuprogrammieren, verstößt gegen Grundrechte.

Sind die Moonies, Scientology oder Hare Krishna noch aktiv?

Früher haben solche Gruppen viele Anfragen in den Beratungsstellen ausgelöst, da sie auch auf der Straße angeworben haben. Es wurde damals viel Präventionsarbeit geleistet und in Schulen aufgeklärt. Scientology wurde sogar vom Verfassungsschutz beobachtet. Aber seitdem hat sich die Nachfrage verändert. Jede Zeit bringt spezifische Gruppen hervor. Wir gehen davon aus, dass das deutschlandweit wahrscheinlich in den Tausenderbereich geht. Soziale Medien spielen bei der Werbung eine große Rolle.

Im Interview:  Karol Küenzlen-Zielinski

44, ist Pädagoge und arbeitet für die SektenInfo, der Leitstelle für Sektenfragen, bei der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie.

Das Internet ist für viele Betroffene eine Aufklärungshilfe. Sekten können Information nicht mehr so kon­trollieren wie vor der Digitalisierung.

Menschen, die in konflikthaften Gruppen gewesen sind, können digital zueinanderfinden und sich organisieren, wie bei jz.help und fundamentalfrei.org. Sie finden im Netz Hilfe und Austauschmöglichkeiten mit anderen Betroffenen.

Was tut sich in der Spiri-Metropole Berlin, wo man jeden Abend zu einer Kakao-Zeremonie oder erotischen „Tempelnacht“ gehen kann?

Sehr viel. Uns erreichen Anfragen zum Psychomarkt und zur alternativen Heilerszene, zu esoterischen Gruppen wie der Anastasia-Bewegung und zu Evangelikalen. Dazu kommen die Reichsbürger und die gesamte Bandbreite der Verschwörungstheorien. Die Pandemie hat auch einen großen Einfluss auf die Homeschoolingszene gehabt, die sogenannten Freilerner. Da ist ein Beratungsbedarf entstanden, vor allem, wenn sich jemand in der Familie oder im persönlichen Umfeld diesen Ideen angeschlossen hat.

Sind die Mechanismen beim Verschwörungsglauben vergleichbar mit dem Sog einer sogenannten Sekte?

Interessanterweise ähneln sich die Strukturen sehr, auch die Auswirkungen auf das Umfeld und das Schwarz-Weiß-Denken. Die unhinterfragte Erhöhung der eigenen Gruppe und die Abwertung der Außenwelt, das kommt bei beiden Phänomenen vor. Ebenso wie starke Verhaltensänderungen oder Kontaktabbrüche. Verschwörungsdenken ist aber keine neue Entwicklung der letzten drei Jahre, sondern hat stets zu konfliktträchtigen Gruppen gehört. Wir können deshalb unsere Beratungskonzepte gut auf die Menschen übertragen, die von Verschwörungstheorien betroffen sind.

Das landläufige Klischee ist, dass Sektenmitglieder willensschwach, leichtgläubig oder einsam sind und daher anfällig. Stimmt das?

Das ist zu verkürzt und einseitig. Wer sich solchen Gruppen anschließt, hat Ideale und ist auf der Suche nach Gemeinschaft, Liebe oder Glück. Das sind zutiefst menschliche Bedürfnisse und keine Schwächen. Auch eine persönliche Krisenerfahrung kann eine spirituelle Suche auslösen. In diesen Zeiten einer größeren gesellschaftlichen Krise wie Kriegsgefahr und Klimakatastrophe können wir davon ausgehen, dass immer mehr Menschen sich auf diese Suche begeben werden.

Was macht Ihnen am meisten Sorgen?

Die Vermischung von Spirituellem und Demokratiefeindlichem, zum Beispiel die mythische Abwertung von Menschen im Gedankengut der Verschwörungserzähler und rechten Esoteriker*innen. Das wird teilweise schon zum Mainstream. Das ist nicht eine bestimmte Gruppe, sondern eine Idee, die über viele Kanäle verbreitet wird und die die Stimmung in der Gesellschaft unverantwortlich aufheizt. Es hat seit dem Angriffskrieg Russlands in der Ukraine zugenommen.

Machtmissbrauch bei „Bild“, Set von Til Schweiger, bei Rammstein-Konzerten, im Spitzenrestaurant Überfahrt: Welche Parallelen haben diese Fälle zu destruktiven Gruppen?

Konflikthafte Strukturen fallen ja nicht vom Himmel, sondern entwickeln sich, wenn es keine demokratische Kultur mit Transparenz und partizipativen Prinzipien gibt. Es gehört auch immer ein System der Angst dazu, wo geschwiegen und vertuscht wird. Das führt dazu, dass dann Personen mit problematischen Persönlichkeitsmerkmalen Machtpositionen ergreifen, ohne dass ihnen Einhalt geboten wird. Die beste Vorbeugung dagegen, auf allen Ebenen der Gesellschaft, ist Kritik an Hierarchien und Machtgefällen. Leider gibt es kein Standardrezept.

Mehr zu Esoterik, Sex und Psychosekten im im taz-Talk mit Anke Richter und Ondra Veltruský am 4. Juli in der taz Kantine und auf Youtube

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!