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PROTEST In Deutschland ist man zynisch und lethargisch, sagt Philipp Ruch, der Gründer des Zentrums für Politische Schönheit. Er will das ändern – mit Kunst und Furor. Ein Gespräch„Die Wirklichkeit ist eine Zumutung“

Gespräch Martin Kaul Foto Wolfgang Borrs

taz.am wochenende: Herr Ruch, wir würden Sie jetzt gern abschminken.

Philipp Ruch: Bleibt der Fotograf da?

Spielt das eine Rolle?

Ja. Solange der weiterfotografiert, bleiben die Rußspuren im Gesicht.

Sie haben keinen Ruß im Gesicht, das ist Schminke.

Nein, das sind Rußspuren.

Was sollen das für Rußspuren sein?

Man wird zwangsläufig schmutzig, wenn man mit verbrannten Dingen operiert. Wir wühlen in den verbrannten Hoffnungen Deutschlands.

Geht es auch eine Nummer kleiner?

Nein, leider nicht. Wir haben lange genug im Kleinformat gedacht.

Wie meinen Sie das?

Ich wurde in eine Zeit hineingeboren, in der die Kunst wohlig warm in einem Filz- und Fettmantel eingepackt war. Sie wissen ja, wie Holzkohle entsteht.

Und selbst wenn?

Etwas auf einer bestimmten Wärmestufe zu halten, ist ein extrem langwieriger Prozess. Die Kunst besteht darin, es nicht zu heiß werden zu lassen, sonst verbrennt es. Unserer Bundesrepublik ist das in den letzten Jahrzehnten ganz gut gelungen: Da war es wohlig warm, das Bruttoinlandsprodukt hat sich versiebenfacht. Zugleich sind in diesem Wohlstandskäfig bestimmte Dinge nahezu ausgestorben. Dazu zählt auch die politische Aktionskunst.

Sie haben am Brandenburger Tor ein Mahnmal für Srebrenica errichtet, haben am Bundestag Gedenkkreuze für die Mauertoten entwendet und zuletzt Menschen, die auf der Flucht gestorben sind, in Italien exhumiert und in Berlin beerdigt. Ihre Aktionen machen Furore.

Das mag daran liegen, dass die politischen Hoffnungen in Deutschland so überschaubar sind. Es hat sich ein Zynismus breit gemacht, der besagt, dass es uns besser gehe, wenn wir visionslos umherirren. Helmut Schmidt ist für diese Überzeugung die prägende Gestalt: Wer Visionen hat, möge zum Arzt gehen, hat er gesagt. Dafür gab es Applaus und Jubel selbst unter Intellektuellen. Dabei ist das doch eine fatale Meinung. Man kann Helmut Schmidt, der in den letzten Jahren mit seiner publizistischen Hausmacht versucht hat, alles zu dominieren, dafür gar nicht genug verachten.

Wofür verachten Sie ihn noch?

Zwischen ihm und Willy Brandt verläuft die Konfliktlinie zwischen Bürokratie und Großgesinntheit. Brandt steht für eine Art, Politik zu leben, die fundamental gegen das steht, was heute verehrt wird: Wir diskutieren in Deutschland ernsthaft seit Monaten über die Autobahnmaut und das Betreuungsgeld. Das ist doch kein Diskurs, das ist Propaganda.

Was genau ist Propaganda?

Sie können ja meinetwegen ein paar Artikel über die Autobahnmaut veröffentlichen. Verwerflich sind aber die medialen Schweinwerfer, die da auf Politiker gehalten werden, wenn sie solche Dinge ernsthaft diskutieren. Darüber vergessen wir, was eigentlich wichtig ist: In Syrien spielen sich seit vier Jahren apokalyptische Szenen ab.

Wollen Sie das wirklich vermischen?

Ich will das nicht vermischen, sondern trennen. Wenn in Deutschland jemand ermordet wird, wird der Tatort abgesperrt, Forensiker werden an den Tatort gebracht, eine Hundertschaft Polizisten geholt und das ganze Land umgepflügt. Unter theatralischen Gesichtspunkten würde man sagen: die perfekte Inszenierung, ganz große Schule. In Syrien kommen Tausende Menschen täglich ums Leben, und was passiert? Nichts.

Sie haben sich viel mit Völkermorden beschäftigt, auch in Ihren Kunstaktionen.

Die Beschäftigung mit Srebrenica ist eine Urerfahrung. Bosnien ist eine Blaupause für die neuen Völkermorde im 21. Jahrhundert. Jeder, der damit in Berührung gekommen ist, weiß: Es lässt einen nicht mehr los. Das Gleiche geschieht im Moment mit allen, die sich mit der Lage in Syrien befassen. Man muss sich jeden Genozid vornehmen und fragen, wie er hätte verhindert werden können. Auch den Holocaust.

Was hat das mit Kunst zu tun?

Zunächst wenig. Die Frage, wie wir in Srebrenica hätten intervenieren können, ist relativ schnell zu klären, sie interessiert nur leider keinen. Man ehrt jedoch die Opfer nicht damit, dass man bei einer Mahnwache bedröppelt an einem Gedenkstein herumsteht.

Sondern wie?

Philipp Ruch

Der Mann: 34, ist Gründer und künstlerischer Leiter des Zentrums für Politische Schönheit, das in den vergangenen Jahren mit provokanten Kunstaktionen immer wieder Aufsehen erregte. Philipp Ruch wurde in Dresden geboren, verbrachte einen Teil seiner Kindheit in der DDR und zog später mit seinen Eltern in die Schweiz. Er besuchte die Handelsschule Bern, studierte Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin und promovierte zu „Ehre und Rache. Eine Gefühlsgeschichte des antiken Rechts“. Ende August 2015 soll sein nächstes Buch, „Wenn nicht wir, wer dann?“, erscheinen.

Man ehrt die Gestorbenen, wenn man weiß, wie man diese Toten verhindert hätte und in Zukunft verhindern kann.

Sie haben selbst einen Hang zur großen Geste. Ihre letzte Demonstration, die Sie als Kunstwerk inszenierten, nannten Sie „Marsch der Entschlossenen“.

Mich beschäftigt unsere Untätigkeit. Wenn Sie die Facette des Widerstands als große Geste bezeichnen, gut. Für mich ist der Widerstand gegen politische Verbrechen historisch gesehen mehr als eine Geste. Es ist und war stets unser Pazifismus, unsere Inszenierung als friedensliebend, die täglich Tausende Menschen tötet. Srebrenica oder Syrien – wir hätten das niemals zulassen dürfen. Wie ist es möglich, dass wir dort Dingen zusehen, die wir hier, würden sie sich neben uns ereignen, niemals dulden würden?

Wie erklären Sie sich das?

Mit einigen entscheidenden gesellschaftlichen Leerstellen. Bis zur Erfindung der Meinungsfreiheit gehörten Intellektuelle zu den gejagtesten Gestalten in der Geschichte der Menschheit. In den großen Kriegen wurden sie zuallererst getötet. Und heute? Wer interessiert sich noch für das, was vermeintliche Intellektuelle in Deutschland zu sagen haben? Wo in Deutschland ist eigentlich die starke Front der Intellektuellen? Warum haben wir nur Personen wie Jürgen Todenhöfer, die sich im Namen Deutschlands in der Welt herumtreiben? Was soll das? Wo ist Böll? Wo sind die Wohlhabenden? Es gibt Intellektuelle in Deutschland, die unfassbar reich sind. Dabei müsste man nicht mal reich sein, um sich ein lächerliches Ticket nach, sagen wir, Libyen zu kaufen, um zu sehen, was dort mit Flüchtlingen passiert.

Und Sie wollen diese Lücke schließen?

Ich habe überhaupt kein Problem damit, diese Lücke zu schließen. Im Gegenteil: Ich sehe uns in der Pflicht dazu.

Das sind große Worte.

Wir müssen uns ja nichts vormachen. Ich war sicher vorgesehen für die klassische Karriere eines Intellektuellen. Universität, Promotion, Exzellenzcluster, vielleicht eine akademische Karriere. Nach der Promotion habe ich mich allerdings gefragt: Was erwarte ich von einem Intellektuellen? Was erwarte ich von mir?

Was erwarten Sie von sich?

Dass ich nicht nur wegsehe. Man kann Philosophie nicht ohne Kenntnisnahme des Holocaust betreiben. Bestimmte Theorien, die Nietzsche oder Kant für Lösungen gehalten haben, haben die Nazis auf ganz praktische Art widerlegt. Sich der Wirklichkeit zu stellen, ist als Leitbild schon eine Herausforderung. Die Wirklichkeit ist eine unfassbare Zumutung.

Wenn es um Leitbilder geht, mangelt es Ihnen nicht an Selbstbewusstsein. Sie scheuen sich nicht, sich ins Erbe des französischen Multimillionärs und Philosophen Bernhard-Henri Lévy zu stellen.

Er ist ein großartiger Impulsgeber. Ich bin zutiefst beeindruckt von einer Szene, die ich mit ihm verbinde. In Deutschland wurde 2011 die Frage diskutiert, ob man zum Sturz des libyschen Diktators Gaddafi die Rebellen im Land unterstützen könne – oder ob damit nur Islamisten unterstützt werden. Während die deutschen Intellektuellen nur darüber diskutierten, wer denn diese Rebellen seien, flog Lévy einfach hin. Er gab auf der Treppe seines Privatjets in Bengasi ein kurzes Statement in die Kameras: „Ich war gerade beim Rebellenrat, ich habe die gerade getroffen, ich werde jetzt meinem Präsidenten empfehlen, diesen fantastischen Widerstandskämpfern zu helfen.“ Dann dreht er sich um, die Tür schließt, das Flugzeug hebt ab. Anschließend hat die Nato auf Betreiben Frankreichs einen Diktator beseitigt.

Was beeindruckt Sie daran so?

Die Rolle des Intellektuellen, der einer Gesellschaft ihre Sorgen und Ängste, vor allem aber ihre Hysterie nimmt. Geht doch endlich mal an die Orte des Schreckens! Warum ist denn nie einer aus Deutschland dort?

Vielleicht, weil es dafür unter anderem Politiker und Journalisten gibt.

Sie als Journalist sind mit Ihrem beschränkten Budget nicht in der Lage, der Gesellschaft bestimmte Ängste zu nehmen. Vielleicht müssen Sie das auch gar nicht. Das können nur die Intellektuellen tun.

Sie haben in Ihrer Künstlergruppe ein Amt eingeführt, das eine andere Funktion zu haben scheint: der „Eskalationsbeauftragte“.

Wir entsenden den Eskalationsbeauftragten in eine Welt, in der davon ausgegangen wird, dass es nur Realpolitik gibt und moralische Positionen politisch nicht durchsetzbar sind. Für diese an sich schon unmoralische Position genügt ein einziges Interview mit Helmut Schmidt. Danach ist einem für den Rest seines Lebens übel. „Moral? Moral? Komm mir bloß nicht mit Moral!“ Diese Haltung ist unter Politikern verbreitet. Die Welt, sagen solche Besserwisser dann, sei nur realpolitisch deut- und gestaltbar. Dass das Unfug ist, zeigen wir, indem wir eine parallele, bessere deutsche Außenpolitik betreiben. Für Menschen wie Helmut Schmidt wäre es ein Schock, einmal auf unseren Eskalationsbeauftragten zu stoßen. Sie rechnen mit einer Grundschwäche moralischer Positionen. Sie können sich schlicht nicht vorstellen, dass Moral eskalieren kann.

Parallele deutsche Außenpolitik – was soll das heißen?

Im Ausland wurden unsere Aktionen ganz anders rezipiert als in Deutschland, wo häufig mit dem Vorschlaghammer auf unsere Kunst eingeschlagen wird. Nach unseren Srebrenica-Projekten hat uns ein Überlebender aus Bosnien geschrieben: „Gott segne die Deutschen“. Der hat die Aktionen so wahrgenommen, als ob ganz Deutschland für ihn aufgestanden wäre. So sollte es auch sein.

Mit Ihrer „Kindertransporthilfe des Bundes“ haben Sie 2014 ein vermeintliches Adoptionsprogramm aufgelegt, mit dem Sie um Freiwillige geworben haben, die elternlose Kinder aus Syrien bei sich aufnehmen. Wie steht es mittlerweile darum?

Wir haben uns neulich entschlossen, das komplette Antragsformular nicht mehr im Internet zum Download zur Verfügung zu stellen, nachdem es immer noch Menschen gibt, die 200 Euro dafür ausgeben, um unsere Auflagen – Schufa-Auskünfte, polizeiliche Führungszeugnisse – zu erfüllen. Es war ein schlüsselfertiges Hilfsprogramm, bereit, um an die deutsche Bundesregierung übergeben zu werden. Natürlich interessiert die Bundesregierung das nicht.

Ihre Kunstaktionen zielen darauf ab, ein gesellschaftliches Schauspiel zu inszenieren. Sie wollen stimulieren, empören, polarisieren.

Ein klassischer Bildhauer versucht sein Werk zu reinigen. Aktionskunst versucht das nicht. Bei uns laufen massenhaft Politiker mit zweifelhaften Überzeugungen ins Werk, die nicht mal bei ihrem Abgang die Scheinwerfer entdecken.

Erklären Sie das, bitte.

Sie rennen mitten ins Stück und merken gar nicht, dass die Rolle, die sie einnehmen, auf sie zugeschnitten war. Wenn Sie so etwas wie den Marsch der Entschlossenen betrachten, der gegen die Inhumanität der deutschen Abschottungspolitik auf die Straße gegangen ist, werden Sie irgendwann erkennen, dass im Medium der Kunst das stattfinden kann, was wir eigentlich „Gesellschaft“ nennen. Das war zu allen Zeiten das oberste und nobelste Ziel des Theaters.

Als Sie anlässlich des Mauerfalljubiläums am Deutschen Bundestag die Kreuze einluden, die dort an die Mauertoten erinnern sollten, war man auch innerhalb der DDR-Opferverbände ziemlich empört.

Wenn sich die CDU in ihrem Gründungsmythos mit der Axt entzweigehauen fühlt, ist das natürlich etwas, das man erst mal nicht vermeiden will. Das ging ja so weit, dass ganz offen formuliert wurde, die deutschen Flüchtlinge früher seien „echte“ Mauertote gewesen – und die Flüchtlinge, die heute an Europas Außengrenzen sterben, seien das nicht. Es gibt Menschen in dieser Republik, die haben nicht erwartet, dass sich die CDU von Kunst und Theater noch mal so aus dem Häuschen locken lässt. Wir hatten eigentlich damit gerechnet, dass die Zeiten für solche Dinge vorbei sind, dass diese Reaktionen vielleicht mit Christoph Schlingensief in den Neunzigerjahren möglich waren, dass die Politiker aber heute zu abgeklärt sind, um auf Theater zu reagieren. Sagen wir es so: Unser Theater zwingt die Politik, zu reagieren.

Es gab im Verlauf dieser Aktion allerdings auch einen Moment, in dem Sie selbst verunsichert waren.

Und zwar?

Als der Staatsschutz die Ermittlungen übernommen hatte und mögliche Hausdurchsuchungen im Raum standen.

Ich hatte kein Problem mit der Ankündigung einer Hausdurchsuchung, sondern mit dem Plural: Hausdurchsuchungen. Da ging es nicht mehr um mich, sondern um mein Team. Und für das bin ich verantwortlich.

Sie haben dann schnell reagiert und gesagt: „Der Staatsschutz war in unserem Stück nicht vorgesehen, aber wir finden sicher einen Platz für ihn.“

Ja, klar.

Das ist eine unwahrscheinlich souveräne, herrschaftliche Pose.

Die Aktionen

2010: Seit der Gründung des Zentrums für Politische Schönheit im Jahr 2008 stehen vor allem zwei Themen im Fokus der Künstlergruppe: Völkermord – und die europäische Flüchtlingspolitik. Mit den „Säulen der Schande“ errichtete das Zentrum 2010 einen Berg aus 16.744 Schuhen vor dem Brandenburger Tor. Damit sollte der mehr als 8.000 Menschen gedacht werden, die im Juli 1995 im bosnischen ­Srebrenica umgebracht wurden.

2012:Im Februar 2012 setzte das Zentrum eine Belohnung in Höhe von 25.000 Euro für Hinweise aus, geeignet dazu, die Eigentümer des Waffenkonzerns Krauss-Maffei Wegmann rechtskräftig zu verurteilen – egal aus welchem Grund. Die Besitzer der Waffenschmiede, so argumentierten die Künstler, hätten ihr moralisches Recht verwirkt, in Deutschland noch ungestraft zu leben. Die Aktion erregte bundesweit Aufsehen und politische Reaktionen.

2014:Mit der sogenannten „Kindertransporthilfe des Bundes“ warb das Zentrum 2014 für ein Hilfsprojekt, mit dem 55.000 syrische Kinder in deutsche Familien vermittelt werden sollten. Die Kampagne sollte an die moralische Verantwortung Deutschlands erinnern – und an die Hilfe, mit der 1938 und 1939 rund 10.000 jüdische Kinder gerettet wurden, weil man sie ins Exil nach Großbritannien brachte.

2014:Als in Berlin im vergangenen Herbst der 25. Jahrestag des Mauerfalls gefeiert wurde, entwendeten die Künstler vierzehn Mauerkreuze am Deutschen Bundestag. Die Kreuze hatten an die Menschen erinnern sollen, die bei ihrer Flucht aus der DDR ums Leben kamen. Das Zentrum veröffentlichte Fotos, die Flüchtlinge an Europas Grenzen mit jenen Kreuzen zeigten. Die Gruppe rief zum Ersten Europäischen Mauerfall auf und brachte Freiwillige an einen Zaun der europäischen Außengrenze, den sie mit Bolzenschneidern durchtrennen wollten. Die Polizei verhinderte das. DDR-Opferverbände und viele Politiker, vor allem der CDU, kritisierten die Aktion.

2015:Zuletzt erregte die Kampagne „Die Toten kommen“ Aufsehen. Mitte Juni lud die Gruppe zu Beerdigungen in Berlin ein, bei denen Tote bestattet werden sollten, die das Zentrum zuvor in Italien exhumiert haben will. Es soll sich um zwei Menschen gehandelt haben, die bei ihrer Flucht nach Europa gestorben waren und in Italien anonym bestattet wurden. Das Zentrum wollte so auf die Tragödien der Migranten, die über das Mittelmeer fliehen, und auf die europäische Abschottungspolitik aufmerksam machen. Die Aktion polarisierte, wurde als menschenverachtend kritisiert oder als Zuspitzung für nötig empfunden. Im Anschluss an eine Demonstration stürmten Tausende Menschen die Wiese vor dem Bundestag und hoben dort symbolisch Gräber für die anonymen Einwanderer aus.

Das ist keine Pose, so souverän bin ich wirklich.

Ja?

Entschuldigen Sie mal. Es gibt hier garantierte Freiheiten, auf die wir nicht nur in Sonntagsreden stolz sind. Wir bringen in diesem Teil des Landes, der erst 25 Jahre alt ist, das Recht zum Blühen. Vor achtzig Jahren mussten Menschen wie wir aus Europa flüchten. Mir fällt kein Grund ein, warum ich mich in achtzig Jahren von meinen Enkelkindern fragen lassen sollte: „Opa, warum hast du, als du alle verfassungsmäßigen Rechte hattest zur Kunstfreiheit, eigentlich nur Blumen gemalt?“ Als die Kunst vor achtzig Jahren von der Vernichtung bedroht war, haben die Surrealisten keine Bilder mehr gemalt, sondern Pässe für Juden gefälscht. Was glauben Sie, wer den besseren Staatsstempel malen kann? Thomas de Maizière oder André Breton?

Seit vielen Jahren diskutiert die außerparlamentarische Linke immer wieder über die Notwendigkeit eines neuen Linkspopulismus in Deutschland. Sie haben ihn ihr gegeben.

Ach, wirklich? Mit links und rechts oder oben und unten habe ich eigentlich nichts am Hut. Auch nicht mit Populismus. Erst recht nicht mit Links­populismus.

Sie bringen bundesweit Menschen dazu, zivilen Ungehorsam zu leisten. Diese Menschen heben symbolische Gräber für unbekannte, gestorbene Einwanderer aus. Viele Menschenrechtsgruppen wären gern so wirkmächtig wie Ihre.

Ich kann mit diesen Zuschreibungen nichts anfangen. Unsere Aktionen bewegen sich in einer Tiefen-, Breiten- und Längendimension, die sich nicht populistisch, schon gar nicht an einem Tag ausloten lässt.

Das stimmt, einerseits. Andererseits sind Ihre Grundpositionen so antagonistisch wie die der militanten, autonomen Gruppen im Westdeutschland der Achtziger. Sie moralisieren bis zum Maximum. Sie verachten Fachpolitiker. Sie fordern: Grenzen auf für alle.

Die Öffnung der Grenzen ist keine linke Forderung. Das war über Jahrzehnte die Kernforderung von Helmut Kohl. Die CDU hat noch in den Sechzigerjahren ein ganzes Netz von Schleppern und Schleusern finanziert, um die Berliner Ost-CDU in den Westen zu bringen. Heute machen sie Jagd auf Schlepper und Schleuser, weil das keine Deutschen sind, sondern Syrer. Der Ruf nach Bewegungsfreiheit ist eine humanistische Kernposition. Ihre Einschränkung ist eines unserer schlimmsten Verbrechen.

Und deshalb braucht es Ihren Druck?

Ich gebe zu: Wir bauen beim Zentrum moralische Hochdruckkammern. Und da dürfen auch mal Köpfe platzen, ja. Denn das Sterben geht einfach weiter an unseren Außengrenzen, wir müssen die Kammer offenbar noch stärker hochheizen. Sie wissen schon: Das ist der Job, von dem man ziemlich schwarz wird im Gesicht.

Martin Kaul, 33, ist taz-Redakteur für soziale Bewegungen

Wolfgang Borrs, 54, ist freier Fotograf in Berlin

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